Das endgültige Urteil werden eines Tages wohl erst Historiker fällen. Aber womöglich ist der amtierende Bundespräsident der politischste, den dieses Land jemals erlebt hat. Ein Beleg dafür ist „Wir“, ein kleines Buch, ein Essay, aus der Feder von Frank-Walter Steinmeier. Nur 142 nicht sehr dicht beschriebene Seiten umfasst es. Die jedoch entwickeln eine verblüffende Wucht. Seine gesammelten Erfahrungen als Politiker, insbesondere als Außenminister, und als Staatsoberhaupt hat Steinmeier komprimiert in dieses Buch gepackt. Es greift gesellschaftliche Debatten und Ängste auf, bestätigt sie durchaus. Am Ende aber macht es Hoffnung.
Zur offiziellen Vorstellung hat Steinmeier Gäste ins Schloss Bellevue eingeladen, sagt: „Wer sind wir? Sie werden bestätigen, diese Frage ist schwer zu beantworten.“ Den Antworten stellt er im ersten Kapitel („Wo wir stehen“) eine Bestandsaufnahme voraus, deren Ansammlung an Themen den Journalisten Nico Fried als Moderator zur Bemerkung veranlasste: „Sie ziehen den Leser erst mal ganz schön runter, bevor es an den Punkt Hoffnungmachen geht.“
Sein neues Buch "Wir" beweist es: Steinmeier kennt sich aus
Die Kriege in Israel oder der Ukraine, die Coronapandemie oder die Wirtschaftsflaute, der Klimawandel – Steinmeier nennt alle Krisen und verleitet so zunächst dazu, das Buch wieder zur Seite zu legen. Das Staatsoberhaupt weiß es selbst. „Wir leben in Zeitumständen, die eher beunruhigend als beglückend sind“, sagt er und ergänzt: „Für viele ist die tägliche Nachrichtensendung schon so etwas wie eine Zumutung geworden.“
Zwei Ereignisse nennt Steinmeier als Grund dafür, warum „Wir“ jetzt erscheint: die Verkündung des Grundgesetzes vor 75 und den Mauerfall vor 35 Jahren. Es sind wichtige historische Daten, aber „Wir“ steht für mehr. Der Bundespräsident kann auf einen großen Erfahrungsschatz zurückblicken, er nennt etwa seine Teilnahme als Außenminister beim Nato-Gipfel in Wales, auf dem 2014 das Zwei-Prozent-Ziel verbindlich beschlossen wurde. Das leitet über zum Ukraine-Krieg und man merkt: Da schreibt einer, der mit dem russischen Außenminister Sergej Lawrow in manchen Zeiten täglich Kontakt hatte.
Steinermeiers Buch "Wir" ist auch eine Ode an den Osten
In Kapitel II („Woher wir kommen“) geht Steinmeier bis aufs „Schwere Erbe des Kaiserreichs“ zurück, skizziert die komplizierten Jahre nach Kriegsende und NS-Herrschaft. Das Übliche, was ein Staatsoberhaupt so sagen muss, könnte man meinen. Doch „Wir“ ist ein nahezu flammendes Bekenntnis zur Wiedervereinigung, das mit großer Zuneigung von den Ostdeutschen spricht. Den gesammelten Erfahrungen auch der jüngeren Generation „größeren Raum in unserem kollektiven Gedächtnis einzuräumen, täte uns gut“, rät er in seinem Buch und fordert, mehr Leitungspositionen mit Ostdeutschen zu besetzen.
Es wird wohl Debatten über Steinmeiers Sicht der Dinge geben. Noch dazu, weil man zwischen den Zeilen stets die Biografie des Tischler-Sohns, der sich hocharbeitete, zu spüren meint. Aber den Diskurs fordert er selbst immer wieder ein, seine Gedanken münden ins Schlusskapitel III („Wer wir sind – und sein können“). Diskrete Mahnungen an die Verantwortung von Regierungen und der Opposition stehen darin, und der Satz: „Niemand kann wissen, wo wir in zehn Jahren stehen werden. Aber wir wissen, was Deutschland sein kann: Ein Land, dass unter Belastung gestanden und im Gegenwind seinen Weg gefunden hat.“ Mehr muss vielleicht gar nicht gesagt werden.
„Wir“ erscheint am 22. April bei Suhrkamp, die Einnahmen fließen in die Staatskasse. Gleichzeitig wird das Buch auf der Interseite des Bundespräsidenten kostenfrei zum Download angeboten.