So ernst war die Lage nach dem Ausbruch des Ukraine-Krieges noch nie. Die Menschen in der Ukraine müssen fürchten, dass sie dem Angriff der Russen nicht mehr lange standhalten können, und die Menschen drumherum ängstigen sich, dass sie dann Putins nächstes Ziel sind. Es konnte nur so weit kommen, weil die Militärhilfen für die Ukraine zögerlicher fließen. Oder möglicherweise bald gar zum größten Teil wegbrechen, wenn der Kongress der Vereinigten Staaten die von US-Präsident Joe Biden eingeplante Unterstützung für Kiew weiter blockiert. Inmitten dieser vertrackten Situation reist ein Bundeskanzler nach Washington, der sich in puncto Ukraine-Unterstützung nichts vorzuwerfen hat. Olaf Scholz ist gerade so eine Art Vorbild, ein Vorreiter. In Europa hat er seine Arbeit gemacht, 50 Milliarden Euro sind auf dem Weg. Nun versucht er es eine Ebene höher, eine Nummer größer, er klopft bei der Weltmacht USA an.
Scholz wird von einer tiefen Sorge um die Menschen in der Ukraine und die Zukunft Europas getrieben, als er am Donnerstag nach Washington aufbricht. Aber vielleicht hat er insgeheim auch schon dem Gedanken nachgehangen, dass das hier sein Projekt, sein politisches Vermächtnis werden könnte. Verwerflich wäre das nicht. Würde er die Hilfe für die Ukraine verstetigen, Putin dadurch zermürben und am Ende für eine Beendigung des Krieges sorgen, dann könnte er sich zu Recht feiern und in die Geschichtsbücher eintragen lassen. Seine Vorgängerin Angela Merkel hatte mit den Minsker Friedensabkommen ähnliches versucht, blieb aber letztlich erfolglos, weil sich niemand an die Verabredungen hielt.
Scholz fliegt mit kleinem Airbus und muss nachtanken
Der Versuch, Großes zu erschaffen, geht allerdings klein los. Der Kanzler der drittgrößten Volkswirtschaft der Welt reist mit einem Airbus A321 nach Washington. Die Maschine ist deutlich kleiner als einer der beiden A350, den großen, repräsentativen Regierungsmaschinen. Die können nonstop vom militärischen Teil des Großflughafens BER zum Washington-Dulles International Airport fliegen. Das ist Standard heute, es spart Zeit, Geld und ist umweltschonender. Allerdings: „Ein Airbus A350 ist derzeit im Einsatz mit dem Bundespräsidenten, der zweite A350 befindet sich in einer geplanten Liegezeit in Hamburg“, teilt die Flugbereitschaft des Verteidigungsministeriums, in deren Obhut die Maschinen sind, auf Anfrage mit.
Pech für den Kanzler, der muss eine Nummer kleiner über den großen Teich jetten und auf dem Hinflug in Reykjavik zwischenlanden. Scholz sitzt da mit der Delegation im Flieger, während draußen der Tankwagen bei eisiger Kälte und schönstem Sonnenschein neuen Treibstoff in die Maschine pumpt. Das dauert auch deswegen lange, weil eine Gangway im Schnee festgefroren ist, die eigentlich vorschriftsgemäß vor den Flieger gerollt werden müsste. Es riecht nach Kerosin, die Situation ist irgendwie ein bisschen peinlich, sie kostet ihn eine Stunde am Boden, plus die Zeit für den An- und Abflug.
Wie es zu dem Treffen von Biden und Scholz kam
Man weiß nicht genau, wer um den Termin bat, für den der Kanzler einige Mühen auf sich nimmt. Biden und Scholz hätten, berichtet ein ranghoher deutscher Diplomat, bei ihrem letzten Telefonat festgestellt: „Wir müssten uns auch einmal wieder sehen, nicht nur am Rande von Gipfeln, sondern auch so.“ Dann habe Biden gesagt: „Ich würde mich sehr freuen, wenn du es schaffen würdest, vorbeizukommen.“ Die Antwort des Kanzlers: „Ich schaue einmal. Ich fände es auch gut. Dann sollen sich unsere Sicherheitsberater einmal koordinieren.“ Danach sei ein Datum gesucht und gefunden worden. Es ist die mit einem Augenzwinkern vorgetragene Kurzfassung des Procederes, sie trifft den Kern gleichwohl sehr gut.
Nach der Ankunft in Washington - es ist dort wegen der Zeitverschiebung kurz vor 17 Uhr, während in Berlin die Zeiger bereits auf 23 Uhr stehen – rauscht Scholz in der Wagenkolonne zum Four Seasons Hotel. Dort hat er ein wenig Zeit, sich frischzumachen, anschließend geht es in die Residenz des deutschen Botschafters, ein imposanter Bau im westlichen Teil des Washingtoner Stadtteils Georgetown. Entworfen hat es der Frankfurter Architekt Oskar Maria Ungers, in den Räumen hängt Kunst von Trockel und Lüppertz. Die Empfangshalle erstreckt sich über zwei Stockwerke, der Blick geht auf den Potomac und auf Washington.
Olaf Scholz trifft einen Doppelgänger
Der Kanzler hat die jeweiligen Führungen der beiden Kammern des Kongresses sowie die wichtigsten Außen- und Verteidigungspolitiker in die Residenz zum Dinner eingeladen, aber bis zuletzt wissen die Deutschen nicht, wer kommt. Das ist unhöflich von den Gästen und es zeigt, welchen Stellenwert sie hier haben. Scholz ist realistisch, er weiß, dass er den deutschen Einfluss nicht überschätzen darf. Aber versuchen will er es trotzdem.
Es wird dann eine nur kleine Runde. Vier Senatoren von den Demokraten und vier von den Republikanern kommen. Bis auf den Trump-Getreuen Lindsey Graham ist kein wirklich prominenter Politiker dabei, das ändert sich erst, als Scholz ein Foto von sich und dem demokratischen US-Senator Chris Coons verbreitet. Beide sehen sich sehr ähnlich, im Internet ist von „Doppelgängern“ die Rede. So gibt es dann was zu erzählen, später, zu Hause.
Joe Biden blamiert sich bei Pressekonferenz
In etwa zeitgleich spielen sich im Weißen Haus Szenen ab, die womöglich als der Zeitpunkt in die Geschichte eingehen, an dem das Ende der zweiten Biden-Kandidatur eingeläutet wurde. Der US-Präsident hat mit nur 15 Minuten Vorlauf zu einer Pressekonferenz eingeladen, „Presser“ heißt das bei amerikanischen Medienleuten sowohl verkürzend wie doppeldeutig. Biden ist in der Tat unter Druck, es geht um vertrauliche Dokumente, die im November 2022 beim Ausräumen eines alten Büros entdeckt wurden, Biden war zu der Zeit Vizepräsident. Justizminister Merrick Garland setzte Sonderermittler Robert Hur zur Aufklärung ein.
Hur hält eine Anklage gegen Biden für nicht gerechtfertigt, damit könnte die Angelegenheit erledigt sein. Doch er stellt auch Vermutungen über den Geisteszustand des 81-Jährigen an. Der Präsident sei ein „wohlmeinender älterer Mann mit einem schlechten Gedächtnis“, heißt es. Biden weist in der Pressekonferenz alle Vorwürfe zurück, wird richtig wütend, weil es unter die Gürtellinie und um seinen verstorbenen Sohn geht. Der Präsident wird laut, die Journalisten werden lauter, ein unwürdiges Schauspiel läuft da ab. Biden sieht nicht gut aus. Und dann macht er - der gerade gesagt hat, sein Gedächtnis sei bestens – aus dem Ägypter Al-Sisi auch noch einen Mexikaner.
Kann Biden Präsident der Atommacht USA sein?
Kann so ein Mann Präsident der Atommacht USA sein? Es ist eine Frage, die auch Olaf Scholz während der Reise oft gestellt wird. Er will sie nicht beantworten, weil es sich nicht gehört, er kann es aber auch gar nicht. Würde sich der deutsche Regierungschef nur andeutungsweise öffentlich zum Gesundheitsstatus des Präsidenten äußern, würde alle Medienwelt denken, er wisse etwas. Die Hölle bräche los.
Also bleibt Scholz bei dem Thema, zu dem er etwas sagen kann, und das ist die Ukraine. Der Einmarsch der Russen steht am Freitag im Mittelpunkt des Treffens mit Biden - es ist ein Thema, bei dem Biden an Größe verliert und Scholz so etwas wie Augenhöhe mit dem Gastgeber erreicht. Denn der US-Präsident muss eingestehen, dass seine Macht nicht ausreicht, um der Ukraine weitere Milliarden Dollar an Militärhilfen zukommen zu lassen. Im Gespräch mit Scholz macht er aus seinem Unmut keinen Hehl. Wenn der Kongress die Ukraine nicht unterstütze, grenze das „an kriminelle Nachlässigkeit“, schimpft „Potus“, was die Abkürzung für President oft the United States ist, und legt nach: „It is outrageous", das ist empörend.
Ohne Hilfen aus den USA droht der Ukraine das Ende
Der Deutsche hingegen kann darauf verweisen, dass er im Rahmen seiner Möglichkeiten geliefert hat: Nicht zuletzt auf seinen Druck hin entschied der Europäische Rat, die Ukraine bis 2027 mit jährlich 12 Milliarden Euro und insgesamt 50 Milliarden Euro zu unterstützen. Deutschland hat für dieses Jahr 7,4 Milliarden Euro an Militärhilfen eingeplant. Im vergangenen Jahr wurden 5,4 Milliarden bereitgestellt. Im Jahr davor waren es zwei Milliarden Euro.
Die Vereinigten Staaten haben bisher ein Vielfaches davon gezahlt und sind zudem in der Lage, hochwertige Waffensysteme an die Ukraine zu liefern. Sollten die zur Rede stehenden Milliarden tatsächlich nicht abfließen, könnte das den Kriegsverlauf entscheidend beeinflussen, es wäre wohl das Ende für die Ukraine. Sie müssen einfach weitermachen, weiß Scholz, auch wenn Bidens Herausforderer Donald Trump die Ukrainehilfen ständig sabotiert. Denn allen ist klar, dass kein anderes Land und selbst die EU als Ganzes die USA nicht ersetzen könnten.
Nach Besuch in Washington: Scholz wirkt keineswegs entmutigt
So kommt nach knapp zwei Stunden Gespräch mit Biden ein sehr ernster Olaf Scholz aus dem Weißen Haus. Die Presse wartet bei frühlingshaften Temperaturen auf der Grünfläche gegenüber, er hat keine Neuigkeiten zu verkünden. Die Lage bleibt volatil und damit brandgefährlich für die Menschen in der Ukraine und den angrenzenden Ländern. Der Westen dürfe nicht zulassen, dass Putins Rechnung aufgehe, mahnt der Kanzler, für den nüchternen Hanseaten ist es schon fast ein Flehen.
Scholz düst nach dem Statement in der Kolonne zu seinem kleinen Airbus, der auf dem Rückflug diesmal in Gander, einem Flughafen auf Neufundland, zwischenlanden muss. 24 Tonnen Kerosin nimmt die Maschine auf, sie muss wegen der Kälte draußen enteist werden, es ist ähnlich trostlos wie auf der Hinreise. Auf dem durch Flug durch die Nacht zurück nach Berlin spricht Scholz noch mit der „Begleitpresse“, wie es offiziell heißt, und er wirkt keineswegs entmutigt. Aufzugeben ist keine Option. Die Lage ist ernst. Aber noch ist sie nicht hoffnungslos.