Während die Welt fassungslos auf die Reste des syrischen Kartenhauses blickt, das noch vor wenigen Tagen international als feste Burg des Schreckens galt, sitzen die Christen auf gepackten Koffern. Mal wieder. Auch andere Bevölkerungsgruppen wie Sunniten, Kurden, Aleviten oder Drusen blicken teils erleichtert auf das Ende der Diktatur von Baschar al-Assad, teils aber auch mit der Furcht vor neuen Kriegen und instabilen Verhältnissen in die Zukunft. Doch die Angst vor dem, was in den nächsten Wochen und Monaten passieren könnte, ist bei den Christen besonders ausgeprägt.
Der Nahost-Referent der Gesellschaft für bedrohte Völker, Kamal Sido, hat eine einleuchtende Erklärung dafür, dass gerade für die assyrischen Christen der Zerfall der staatlichen Ordnung eine besonders große Bedrohung ist: „Ein Chaos wäre für die Christen eine Katastrophe, denn sie verfügen nicht über eine eigene Miliz. Sie sind schutzlos“, sagt Sido, dessen muslimische Familie aus der Region Aleppo stammt.
Die Streitkräfte des Regimes waren in einem jämmerlichen Zustand
Sido prophezeite bereits 2021, dass Assad, in dem Moment um seine Macht fürchten müsse, in dem der russische Präsident Wladimir Putin es für opportun halten würde, ihn fallen zu lassen. Jetzt scheint es so, dass Moskau sein Engagement für den Kriegsverbrecher notgedrungen herunterfahren musste, da die militärischen Kapazitäten für ihren ebenfalls verbrecherischen Krieg gegen die Ukraine benötigt werden. Zeichen der Schwäche des Regimes hat Sido bereits 2023 wahrgenommen: „Ich war verdeckt in Syrien und habe dabei 21 Checkpoints der syrischen Armee passiert. Da habe ich gesehen, in welch jämmerlichem Zustand die Streitkräfte Assads sind, und geahnt, dass diese Soldaten nicht mehr entschlossen für Assad kämpfen würden.“
Seit Jahren geht der christliche Anteil an der Bevölkerung zurück, die – je nach Quelle – rund 24 Millionen Köpfe zählt. Zwischen 200.000 und 450.000 Christen sollen noch in Syrien leben, das seit dem Aufstand gegen Diktator Baschar al-Assad im Jahr 2011 unter Krieg und Vertreibung leidet. Bis zu einer halben Million Todesopfer haben die wechselnden Kämpfe unter Syrern gekostet.
Die Grausamkeit des Regimes zeigten die Bilder aus dem Folterzentrum Sednaya
Die unfassbare Grausamkeit des Regimes zeigt sich in den aufwühlenden Bildern aus dem größten „Schlachthaus“ der Assad-Schergen, dem Gefängnis und Folterzentrum Sednaya bei Damaskus. Tausende Häftlinge, darunter viele politische Gefangene, wurden von den siegreichen islamistischen Milizen befreit. Zahlreiche Leichen wurden in den Kerkern entdeckt. Bilder, die im Nachhinein die Bestrebungen auch westlicher Staaten ad absurdum führen, mit Assad aus strategischen Gründen und nicht zuletzt auch zur Begrenzung der Flüchtlingsbewegungen zusammenzuarbeiten.
Jetzt richten sich alle Augen auf den neuen starken Mann in Damaskus, Ahmed al-Scharaa, zuvor bekannt unter seinem Kampfnamen Abu Mohammed al-Dschulani. Er ist der Anführer der islamistischen HTS-Rebellen, die ihre Hochburg bisher in Idlib unterhielten. Issa Hanna, Mitglied des Vorstands der Assyrischen Demokratischen Organisation (Ado), ist zwiegespalten: „Wie kann ich einem Mann trauen, der früher in terroristischen Islamistengruppen aktiv war?“ Diese Frage stellt sich Hanna, der in Augsburg wohnt, im Gespräch mit unserer Redaktion.
Im Nordosten des Landes leben die Christen noch relativ sicher
Hannas Familie kommt aus Qamischli im Nordosten Syriens. „Dort ist es relativ stabil, auch die Versorgung mit Lebensmitteln ist besser als in anderen Landesteilen.“ Erst im zweiten Anlauf sei ein Transport von 300 christlichen Studenten aus Aleppo nach Qamischli gelungen. In der Millionenstadt mit uralten christlichen Traditionen lebten vor dem Bürgerkrieg einst mehr als 230.000 Christen. Jetzt sind es nach Schätzungen nur noch weniger als 25.000.
Rebellenchef al-Scharaa sagt seit Tagen in jedes Mikrofon, dass er den Schutz aller ethnischen und religiösen Minderheiten garantieren werde. Die zum Teil schwer überprüfbaren Meldungen aus Damaskus und anderen Städten legen nahe, dass zumindest die HTS-Rebellen bisher versuchen, für geordnete Verhältnisse zu sorgen. Kamal Sido fällt es dennoch schwer, daran zu glauben, dass es dabei bleibt. Er hat klare Forderungen: „Al-Scharaa muss beweisen, dass er ein syrischer Patriot ist. Ich glaube, dass er gegen den Einfluss Russlands und des Iran ist, aber er muss auch in Richtung Türkei klar sagen: ,Erdogan, lassen Sie die Finger von unserem Land´. Das wäre ein starkes Zeichen.“
Kamal Sido kritsiert auch Außenministerin Baerbock scharf
Sido kritisiert scharf die Rebellengruppen, die direkt von Ankara unterstützt werden, aber auch die deutsche Bundesregierung. „Die Milizen schlachten im Norden des Landes Kurden ab. Doch Außenministerin Annalena Baerbock schweigt zu diesen Verbrechen. Hier wird die Gefahr durch den Islamismus in Syrien seit vielen Jahren verharmlost. Ich persönlich glaube Baerbock kein Wort mehr.“
Während Sido auf die USA und Israel setzt, wenn es darum geht, die Islamisten im Zaum zu halten, traut Issa Hanna auch Deutschland, den Briten und Frankreich zu, deeskalierend auf die neuen Herrscher in Syrien Einfluss zu nehmen. Als gute Basis für ein Engagement auch im Sinne der syrischen Christen nennt Hanna den Acht-Punkte-Plan, den Baerbock vorgestellt hat. Kernpunkte sind die Unterstützung für einen friedlichen Machtwechsel in einem endlich tatsächlich souveränen Land. Dazu, das ist der Grünen-Politikerin klar, muss es Kontakte zu al-Scharaa und seiner HTS geben. Baerbock bietet zudem Hilfe bei der Aufarbeitung der Gräuel des Assad-Regimes an.
Zuletzt überdeckte in Deutschland eine aufgeregte Diskussion über die Sinnhaftigkeit von schnellen Abschiebungen nach Syrien die Sorge um die Zukunft des kriegsgeplagten Landes. Hanna ist davon überzeugt, dass viele syrischstämmige Männer und Frauen in ihre Heimat zurückkehren, wenn sich zeigt, dass das Land dauerhaft auf dem Weg der Stabilität und Sicherheit bleibt. Kamal Sido hingegen ist überzeugt, dass weniger syrische Christen zurückgehen, sondern eher konservative, religiöse Muslime.
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