Startseite
Icon Pfeil nach unten
Politik
Icon Pfeil nach unten

Bürgerkrieg in Syrien: Demokratie, Islamismus oder Chaos? Wie es in Syrien weitergehen könnte

Bürgerkrieg in Syrien

Demokratie, Islamismus oder Chaos? Wie es in Syrien weitergehen könnte

    • |
    • |
    Menschen schießen in die Luft und feiern den Sturz der syrischen Regierung in Damaskus.
    Menschen schießen in die Luft und feiern den Sturz der syrischen Regierung in Damaskus. Foto: Ugur Yildirim, dpa

    Optimisten vergleichen den Sturz des brutalen syrischen Präsidenten Baschar al-Assad und die Folgen für die Nahost-Region bereits mit dem Berliner Mauerfall. Pessimisten loben zwar das Ende der blutigen Schreckensherrschaft Assads, warnen jedoch vor einer neuen Phase von Chaos und Terrorismus mit ungewissem Auswirkungen auf die Krisenregion. Derzeit bestimmen drei Szenarien die Diskussion:

    Wird Syrien zur Demokratie?

    Syrische Rebellen waren am Wochenende gerade erst in die Hauptstadt Damaskus einmarschiert, da legte Radwan Ziadeh schon seinen Plan für den Übergang zur Demokratie vor. Der syrische Exil-Aktivist hatte in den vergangenen Jahren mit Gleichgesinnten beim Syrischen Zentrum für Politische und Strategische Studien (SCPSS) ein Modell für die Zeit nach der Herrschaft von Baschar al-Assad ausgearbeitet. Auch andere syrische Regimegegner und Gremien haben sich Gedanken gemacht, wie nach dem Sturz der Diktatur ein neues Syrien organisiert werden kann.

    Grundlage der Vorschläge ist die UN-Resolution 2254 aus dem Dezember 2015. Damals forderte die Weltorganisation einen „politischen Prozess“ unter syrischer Führung. Im Jahr 2019 begannen unter dem Dach der UN in Genf erste Gespräche zwischen Assads Regierung und der Opposition über eine neue Verfassung. Assads Verzögerungstaktik verhinderte nennenswerte Fortschritte in den Gesprächen.

    Zu den Herausforderungen der Nachkriegsordnung gehören die Überwindung von Hunger und Wohnungsnot in dem kriegszerstörten Land, die Frage der Rechenschaft von Mitgliedern des Assad-Regimes für den Tod von hunderttausenden Menschen und andere schwere Menschenrechtsverletzungen sowie die Rückkehr der zwölf Millionen Flüchtlinge; sieben Millionen Syrer wurden in 13 Jahren Bürgerkrieg innerhalb des Landes vertrieben, weitere fünf Millionen flohen ins Ausland.

    Ziadehs Plan sieht als ersten Schritt vor, dass die Verfassung von 1950 - aus der Zeit weit vor dem Beginn der Herrschaft der Assad-Familie im Jahr 1971 - wieder gelten soll. Garantiert werden soll zudem die Gleichberechtigung aller Syrer, unabhängig von ihrem Geschlecht oder ihren ethnischen oder religiösen Zugehörigkeiten. Eine Übergangsregierung soll die Wahl einer verfassungsgebenden Versammlung organisieren, die innerhalb von neun Monaten ein neues Grundgesetz für Syrien schreiben und den Syrern in einem Referendum vorlegen soll. Nach 18 Monaten soll der Übergang zur Demokratie abgeschlossen sein.

    Wird Syrien zum Islamistenstaat?

    Dass die neuen Machthaber von der islamischen Rebellengruppe HTS aus Syrien eine Demokratie installieren, hält der Terror- und Islamismusforscher Peter Neumann jedoch für unwahrscheinlich. HTS-Chef Mohammed al-Dschulani stehe für einen islamistischen Staat. „Vielleicht nicht ganz so brutal wie beim IS, aber Frauen und Minderheiten hätten dort wenig zu sagen“, erklärt Neumann in seiner Analyse. „Der Chefideologe der Gruppe hat kürzlich die Taliban zum ,Vorbild’ ausgerufen.“ Dschulani hatte vor dem Sturz von Assad zwar eine Regierung für alle Syrer versprochen, aber angedeutet, dass er eine islamistische Staatsform bevorzugt. Doch die Minderheiten in Syrien - Alawiten, Christen, Drusen, Schiiten und Kurden - trauten Dschulani nicht über den Weg. Sie fürchten nicht nur einen Gottesstaat, sondern auch Vergeltung für die Gräueltaten von Assad und seinem Regime, erklärt Neumann. Für Israel sei der Machtverlust des Irans durch Assads Ende und die Schwächung der in Syrien auf Seite Assads kämpfenden Hisbollah positiv. „Doch gleichzeitig ist klar: Ein von Islamisten regiertes Syrien direkt vor der eigenen Haustür ist für Israel keine gute Nachricht“, mahnt der am Londoner King’s College lehrende Professor.

    Versinkt Syrien nach Assads Sturz im Chaos?

    Jahrzehntelang tolerierten Staaten Diktatoren, weil sie angeblich chaotische Zustände in bestimmten Regionen verhinderten. Terrorforscher Neumann hält nichts von dieser These. „Assads Versprechen von ,Stabilität’ war stets eine Lüge“, betont der Politikwissenschaftler. „Der Mann und sein Regime haben Hunderttausende von Menschen auf dem Gewissen - weit mehr als der IS und alle anderen Rebellen zusammen.“ Dennoch erwartet der Experte nicht, dass durch den Sturz des Regimes Stabilität einkehrt.

    „Was sich heute in Syrien abspielt, ist deshalb sowohl Ende als auch Anfang“, sagt Neumann. „Es ist das Ende einer zynischen und brutalen Schreckensherrschaft, aber möglicherweise eben auch Beginn einer neuen Periode von Instabilität und Konflikt“, warnt er. „Ich hoffe sehr, dass ich falsch liege“, fügt er hinzu. Dennoch lehrt die jüngere Vergangenheit, dass ein Regimesturz enorme Risiken berge. „Die Lehren aus Afghanistan, dem Irak, Libyen und Syrien selbst sind eindeutig: Bürgerkriege schaffen nicht nur humanitäre Katastrophen, sondern auch den Nährboden für Terrornetzwerke“, warnt Neumann. Wenn nun Syrien erneut im Chaos versinken sollte, hätte sogar das Terrornetzwerk IS wieder eine Chance, dort zu erstarken.

    Neumann hält derzeit drei Szenarien für die Zukunft für Syrien denkbar. Am praktikabelsten könnte eine friedliche Spaltung des Landes in zwei bis drei autonome Provinzen sein. Ansonsten drohe ein Wiederaufflammen des Bürgerkriegs, der in eine Spaltung des Landes münden könne. Wichtig sei, dass die Golfmonarchien Saudi-Arabien, Katar und die Vereinigten Emirate in Zukunft eine konstruktive Rolle spielen. Allerdings hätten sie jahrelang den Bürgerkrieg in Syrien mit Geld und Waffen befeuert. „Niemand sollte unterschätzen, welch enorme Konsequenzen die aktuellen Entwicklungen haben könnten – und zwar innerhalb Syriens, regional und global“, warnt Neumann. „Einfach ausgedrückt: Kein Mensch weiß, wie es jetzt weitergehen soll“, räumt der Experte ein.

    Diskutieren Sie mit
    0 Kommentare

    Um kommentieren zu können, müssen Sie angemeldet sein.

    Registrieren sie sich

    Sie haben ein Konto? Hier anmelden