Tirana rollte der Europäischen Union buchstäblich den roten Teppich aus. Meterlang zog sich eine Stoffbahn um das Kongresszentrum der albanischen Hauptstadt, vor dem Eingang lag ein weiterer gigantischer roter Teppich ausgebreitet, auf dem der albanische Premierminister Edi Rama die Staats- und Regierungschefs der EU sowie der westlichen Balkanstaaten empfing. Der besondere Treffpunkt stelle „eine neue Dynamik in unseren Beziehungen dar“, hieß es von einem hohen Brüsseler Diplomaten im Vorfeld. Immerhin war es der erste EU-Westbalkangipfel überhaupt, der in der Region stattfand.
Albanien, Serbien, Nordmazedonien, Bosnien-Herzegowina, Montenegro und Kosovo wollen in die EU
Die Staatengemeinschaft wollte damit bekräftigen, dass sie es ernst meint mit der Heranführung und Aufnahme der Westbalkan-Länder. Neben Albanien streben Serbien, Nordmazedonien, Bosnien-Herzegowina, Montenegro und Kosovo eine Mitgliedschaft an. Zwar befinden sie sich in unterschiedlichen Phasen ihrer Bemühungen um einen EU-Beitritt, doch eines eint die sechs Partner: Sie fühlen sich seit Jahren ausgebremst. Angesichts der ungeklärten Perspektive herrscht Frust. Würde dieses Treffen also mehr sein als reine Symbolpolitik?
Den Anschein wollten die angereisten europäischen Staatenlenker zumindest machen. Die Sorge ist groß in Brüssel, dass sich die Westbalkanländer in ihrer Enttäuschung in Richtung Moskau oder Peking orientieren, deren autokratische Präsidenten allzu gerne das entstandene Vakuum füllen würden. Der Kreml etwa heizt mit Desinformationskampagnen den Nationalismus in der Region an.
Auch wenn Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen „neuen Schwung“ im Beitrittsprozess erkennen wollte, konkrete Fortschritte gab es in diesem Bereich nicht. Die Verantwortlichen verweisen regelmäßig auf die Bedingungen, die zuerst erfüllt sein müssten. Wie steht es um die Korruptionsbekämpfung? Wie um Rechtsstaatlichkeit? Der Reformkatalog ist lang.
Einfluss sichern: EU will Länder auf dem Balkan finanziell fördern
Um die Länder trotzdem enger an sich zu binden und gleichzeitig den Wettstreit um Einfluss in der Region zu gewinnen, greift die Union tief in die Taschen. Im Rahmen einer Wirtschafts- und Investitionsoffensive will man in den kommenden Jahren bis zu neun Milliarden Euro an Zuschüssen bereitstellen, die dann zusätzliche 20 Milliarden Euro an Investitionen mobilisieren sollen. Außerdem unterstützt die EU die Region mit einem Hilfspaket über eine Milliarde Euro, um die Folgen der Energiekosten-Krise abzufedern.
Die sechs Staaten müssten sich entscheiden, auf welcher Seite sie stünden, forderte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen: „Auf der Seite der Demokratie, das ist die Europäische Union, euer Freund und Partner. Oder wollt ihr einen anderen Weg nehmen?“ Die Frage dürfte insbesondere an einen Politiker adressiert gewesen sein: Serbiens Präsident Aleksandar Vucic. Er pendelt weiterhin taktisch zwischen Brüssel und Moskau und hat sich bislang auch nicht den EU-Sanktionen gegen Russland angeschlossen. „Wir kennen unsere Verpflichtungen gegenüber der EU, aber wir sind ein unabhängiges Land“, sagte der Serbe. „Wir schützen unsere nationalen Interessen.“
Einige EU-Länder erkennen Kosovo nicht an
Vucic sorgte im Vorfeld für Wirbel, weil er erst nicht zum Gipfel anreisen wollte und dann doch kam. Grund für die Streitigkeiten sind Machtspiele im Kosovo. Es geht um den alten Konflikt zwischen den Nachbarn. Das heute fast ausschließlich von Albanern bewohnte Kosovo, das sich 1999 abgespalten und 2008 für unabhängig erklärt hatte, wird von Serbien weiterhin als abtrünnige Provinz behandelt. Die EU versucht sich seit Jahren als Schlichterin und verlangt, dass Belgrad seine Blockade gegen die Mitgliedschaft der balkanischen Minirepublik in internationalen Organisationen aufgibt. Doch innerhalb der EU verweigern auch Spanien, Griechenland, Zypern, Rumänien und die Slowakei dem Kosovo völkerrechtliche Anerkennung.
Neben dem Umgang mit Russland stand auch das Thema illegale Migration oben auf der Agenda. Die Zahl der Flüchtlinge, die über den Westbalkan in die EU kommen, ist in diesem Jahr stark angestiegen. Allein im Oktober registrierte die EU-Grenzschutzagentur Frontex 22.300 unerlaubte Grenzübertritte – fast drei Mal so viele wie im Vorjahreszeitraum.
Die Schuld sehen EU-Politiker unter anderem in der Visa-Politik einiger Balkanstaaten, insbesondere Belgrads. So können Menschen etwa aus Indien visafrei mit dem Flugzeug in Serbien landen und anschließend mit Schleppern in die EU weiterreisen. Deshalb pocht die EU darauf, dass die Balkanländer ihre Visa-Politik an die der Gemeinschaft angleichen. Der Druck zeigt erste Wirkung. Gerade erst hob Vucic die Visumfreiheit für Tunesier und Burundier auf.