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Brüssel/München: Wie die EU abwehrbereit werden könnte

Brüssel/München

Wie die EU abwehrbereit werden könnte

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    Europäische Militärmissionen der EU gab es bislang nur in wenigen Krisenregionen wie in Mali oder Bosnien.
    Europäische Militärmissionen der EU gab es bislang nur in wenigen Krisenregionen wie in Mali oder Bosnien. Foto: Kay Nietfeld, dpa

    Als Ursula von der Leyen am vergangenen Mittwochmorgen vor dem Europäischen Parlament ihre jährliche Rede zur Lage der Europäischen Union hält, hören die Gäste im Salon des Münchener Café Luitpold sehr genau zu. Die Rede wird aus dem Straßburger Plenum dorthin gestreamt. Kommissionspräsidentin von der Leyen trägt ein gelbes Sakko über einem blauen Oberteil. Die Farben der Ukraine. Solidarität, „eine Union, die fest zusammenhält“, darum geht es.

    Bei der anschließenden Diskussion – geladen haben die Vertretungen von EU-Kommission und EU-Parlament in München sowie die Europäische Akademie Bayern – meldet sich als Erster ein älterer Herr. Er fragt nicht nach explodierenden Energiepreisen, nach der Teuerung, nach Heizkosten. Er fragt, wie es eigentlich um die Verteidigungsfähigkeit der EU bestellt sei. Dazu nämlich hat von der Leyen, früher auch mal Bundesverteidigungsministerin, wenig gesagt. Eher nichts.

    Was würde ein Wahlsieg Donald Trumps für Europa bedeuten?

    Seit dem 24. Februar ist eine lange Friedenszeit in Europa vorbei. Die russische Armee hat auf Befehl des Autokraten im Kreml die Ukraine überfallen. Der Angriff trifft ein Land, aber er gilt explizit ganz Europa, der Europäischen Union. Kriegsziel ist, den Kontinent zu destabilisieren. Und wie der betagte Herr im Café Luitpold fragen sich seither viele: Wo stünden die russischen Truppen eigentlich, wenn die USA nicht wären? Oder perspektivischer: Was passiert eigentlich mit der Nato, wenn Donald Trump ins Weiße Haus zurückkehrt? Oder einer seiner republikanischen Wiedergänger dort einzieht?

    Die Nato ist gerade sicherlich das Gegenteil von „hirntot“, wie es der französische Präsident Emmanuel Macron einmal zuspitzte. Die Verteidigungs- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union ist zudem vielschichtig organisiert. Die meisten EU-Staaten sind unter dem Schutzschirm des Nordatlantikpaktes. Aber internationale Institutionen und Bündnisse können sich verändern, die USA könnten unter einer anderen Administration wieder isolationistisch agieren. Fest steht: Die geopolitischen Machtblöcke verschieben sich gerade. Die Bürger der EU machen nur unter zehn Prozent der Weltbevölkerung aus. Die Frage nach dem Schutz dieser weit überwiegend demokratisch gesinnten globalen Minderheit – eine Kernaufgabe von Staaten – stellt sich seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine so dringlich wie seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges nicht mehr.

    Braucht die EU eine eigene Armee?

    Es gibt 27 unterschiedliche Armeen, weshalb sich die Frage stellt: Braucht die EU nicht eine eigene Armee? Die Idee ist uralt. Winston Churchill hatte sie zu Beginn des Kalten Krieges gefordert. Und 1950 machte der damalige französische Ministerpräsident René Pleven einen weiteren Vorstoß. Sogar einen europäischen Verteidigungsminister hätte es geben sollen. 72 Jahre später steht die EU in Sachen Verteidigung allerdings noch immer ziemlich blank da. Oder?

    Wie so oft gibt es keine eindeutige Antwort auf diese Frage, aber doch eine klare Analyse. Christian Mölling, Forschungsdirektor der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik und Leiter des Programms Sicherheit und Verteidigung, nennt vier Säulen, auf die sich eine europäische Armee stützen müsste. Erstens: Funktionieren kann eine Armee nur, wenn es auch eine politische Gemeinschaft gibt, die gemeinsame Ziele militärisch verfolgen will.

    Zweitens braucht es eine militärische Gemeinschaft. Zwar gibt es eine „Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik“ der EU, es gibt sogar den „Hohen Vertreter der Europäischen Union für Außen- und Sicherheitspolitik“, aber de facto, meint Mölling, „haben wir keine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik in der EU, sondern sehr unterschiedliche Meinungen darüber, wie Sicherheit in Europa organisiert werden soll.“

    Allein ein Blick auf die neu entflammte Diskussion über weitere Waffenlieferungen für die Ukraine – allein innerhalb der Bundesregierung – genügt.

    Drittens, so zählt Mölling auf, braucht man eine Rüstungsgemeinschaft und viertens eine Rechtsgemeinschaft. Denn für Missionen einer solchen Armee „müssen die gleichen Einsatzgrundsätze – wann etwa darf geschossen werden – gelten. Es braucht ein gemeinsames Wehrrecht. Soldatinnen und Soldaten würden einer Kommandokette unterstellt. Und weil es im Zweifel um das Recht zu töten geht, muss das ganz klar geregelt sein“, erläutert der Sicherheitsexperte. Um dann mit Blick auf die Umsetzung all dessen zu bilanzieren: „Wir sind davon weiter entfernt als noch vor 20 Jahren.“

    Europa fehlt eine militärische Führungsmacht

    Zentral ist auch die Frage, wie sich eine solche europäische Armee zur Nato verhalten würde. Und zu den USA. Wenn Trump wieder ins Weiße Haus einzieht, meint Mölling, wird die Idee der europäischen Armee wiederkehren. Aber selbst wenn die EU eine solche installieren würden, „blieben wir die nächsten 15 Jahre militärisch und rüstungstechnologisch von den USA abhängig“. Die Beschaffung ist noch ein ganz eigenes, grundlegendes Thema. Eine europäische Armee „kann man machen, aber dazu müsste man sehr viel Geld in die Hand nehmen.“ Mölling verbucht die Idee unter von Deutschland geprägter Rhetorik ohne führungspolitische Substanz.

    Sicherheitsexperte Christian Mölling.
    Sicherheitsexperte Christian Mölling. Foto: DGAP/Dirk Enters (Archiv)

    Was aber, wenn Trump oder ein anderer Republikaner ins Amt käme und den Führungsanspruch der USA innerhalb der Nato ruhen ließe, Russland aber noch immer die Ukraine bekriegt? Dann, sagt Mölling, „wird Europa wieder zu einem Hühnerhaufen. Und alles, was östlich der Oder-Neiße-Linie liegt, wird versuchen, sich mit dem Fuchs im Hühnerstall zu arrangieren.“ Polen und Ungarn würden in einer solchen Situation auf die militärische Leistungsfähigkeit schauen: „Und die ist bei weitem nicht da, wo sie sein müsste, um eine glaubwürdige sicherheitspolitische Alternative darzustellen. Das funktioniert einfach alles vorne und hinten nicht.“

    Mölling fragt: Wer ist denn die Führungsmacht nicht nur in der EU, sondern in Europa, wenn die USA nicht vorangehen? Deutschland? Frankreich? Das Brexit-Land Großbritannien? Beide immerhin Atommächte. „Im Lichte des Ukraine-Konflikts sehen wir, wie realitätsuntauglich viele deutsche Vorstellungen von Krieg und Frieden sind. Und eben auch die Idee einer europäischen Armee, die mit den Interessen der Akteure einfach nichts zu tun haben. Wir können uns ja keine neuen Partner backen.“ So weit die unschöne Bestandsaufnahme.

    Sicherheitsexperte Christian Mölling: "Die Bundeswehr ist absehbar handlungsunfähig"

    Was wäre dann eine pragmatische Lösung, wenn eine europäische Armee unrealistisch ist? Mölling sagt: „Die Bundesregierung müsste bis zu 50 Prozent ihres 100-Milliarden-Sondervermögens auf den Tisch legen und sagen: Damit wollen wir Europa nach vorne bringen. Irgendjemand müsste jetzt mal anfangen zu führen. Es müsste weniger darüber geredet werden, sondern zum Beispiel die Bundesregierung müsste anfangen zu liefern. Wenn Deutschland anfangen würde, seine militärischen Fähigkeiten zur Verfügung zu stellen, dann würde man uns zuhören, weil das das Gegenteil von dem wäre, wie wir uns in der Vergangenheit verhalten haben.“

    Was in dem Kontext nicht hilft: Jenseits des zuletzt bereitgestellten Sondervermögens steigt der Wehretat im Bundeshaushalt in den nächsten Jahren real eben nicht. Mölling betont: „Die Bundeswehr ist absehbar handlungsunfähig. Der Bundeswehrhaushalt steigt 2023 auf über 50 Milliarden und bleibt dann da. Wegen der Inflationseffekte wird er aber de facto sinken.“

    Fragt man den Abgeordneten Reinhard Brandl, langjähriges Mitglied im Verteidigungsausschuss des Bundestages, zu einer europäischen Armee, bringt er seine Haltung auf diese Formel: „Ich halte nichts davon, 27 unterfinanzierten Armeen eine 28. unterfinanzierte hinzuzufügen. Wir müssen die 27, die wir bereits haben, Stück für Stück verschmelzen.“

    Wäre eine EU-Armee eine Konkurrenz für die Nato?

    Der CSU-Vertreter des Wahlkreises Ingolstadt in Berlin nennt zwei Beispiele, von denen er meint, dass das gut gelungen ist: Da wäre das I. Deutsch-Niederländische Corps, das multinationale Einsätze ausführt. Die Soldatinnen und Soldaten arbeiten im Verbund, etwa gemeinsam mit der Luftwaffe oder der Marine. Sitz ist in Münster. Generalleutnant Nico Tak, ein Niederländer, führt das Corps seit dem Frühjahr an. Bereits 1995 wurde es aufgestellt. Derzeit dienen dort 1100 Soldatinnen und Soldaten. Ein anderes Beispiel ist die deutsch-französische Lufttransportstaffel, die im März in Évreux in der Normandie ihren Dienst aufgenommen hat. Dort leben, trainieren, fliegen Franzosen und Deutsche gemeinsam. Alles ist komplett integriert. Ein Novum.

    Auch Brandl weist darauf hin, dass die Europäische Union mit ihren Verteidigungsstrategien keine Konkurrenz zur Nato aufbauen dürfe. „Zwei Bündnisse parallel bedienen. Das wird keinem gerecht. Wir müssen vielmehr den europäischen Anteil an der Nato stärken. Daneben sind verbesserte Führungsfähigkeiten für europäische Missionen notwendig. Eine europäische Kommandostruktur braucht es, nicht aber eine zusätzliche europäische Armee.“

    Die EU muss in der Lage sein, Einsätze, wie zum Beispiel die Ausbildungsmission in Mali, selbstständig zu führen. Dabei ginge es um vor allem um europäische Sicherheitsinteressen. Von der Nato und den USA ist hier nur bedingt Hilfe zu erwarten. Brandl meint: „Da sollte Brüssel die Verantwortung übernehmen können.“

    Es ist nicht so, dass auf EU-Ebene seit Russlands Überfall nichts passiert wäre. So soll etwa die europäische Verteidigungsindustrie gestärkt werden. Auch bekommt die EU eine neue militärische Eingreiftruppe, zu der die bisherigen sogenannten EU-Battlegroups (Krisenreaktionskräfte, bisher 1500 Einsatzkräfte pro Gruppe) weiterentwickelt werden sollen. Es gibt in Europa ein Gewimmel militärischer Kooperationen. Die Frage bleibt: Wie schlagkräftig wären sie ohne die USA?

    Schon 2021 – damals unter dem Eindruck des Abzugsdebakels in Afghanistan – hatte Ursula von der Leyen eine Rede zur Lage der Union gehalten. Darin war eher mehr von Verteidigung die Rede gewesen. Sie sagte: „Wenn es um Sicherheit und Verteidigung geht, ist weniger Zusammenarbeit ganz einfach nie die richtige Antwort.“ Und: „Was wir brauchen, ist die Europäische Verteidigungsunion.“ Mal sehen, wie weit Brüssel damit 2023 ist.

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