Staus an den Grenzen zu Georgien und Finnland, explodierende Flugpreise. Seit Präsident Wladimir Putin eine Teilmobilmachung ankündigte, versuchen zahlreiche Russen im wehrfähigen Alter, ihre Heimat zu verlassen, um einem Einsatz an der Front zu entgehen. Viele zieht es in Richtung Europa. Doch wie soll die EU mit russischen Kriegsdienstverweigerern umgehen? Die Gemeinschaft sucht nach einer einheitlichen Linie – bislang vergeblich. So endete ein Krisentreffen der 27 EU-Botschafter in Brüssel ohne Einigung.
Während Polen, Tschechien und die baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen ihre Grenzen zum Nachbarn geschlossen halten und die Aufnahme von Deserteuren ablehnen, fordern andere Länder einen anderen Ansatz. Man suche einen Kompromiss, „der humanitär für die einen und hart genug für die anderen“ sei, wie eine EU-Diplomatin formulierte. „Viele Russen, die jetzt wegen der Mobilisierung fliehen, waren damit einverstanden, Ukrainer zu töten“, meinte jedoch Lettlands Außenminister Edgars Rinkevics auf Twitter. „Sie haben damals nicht protestiert“, deshalb sei es nicht richtig, „sie als bewusste Verweigerer zu betrachten.“ Er führte Sicherheitsbedenken an. Die Befürworter eines radikalen Kurses warnen vor Spionen und Agenten aus Moskau. Man müsse die Sorgen ernst nehmen, meinte eine Diplomatin aus dem Lager jener, die Deserteuren Asyl in Aussicht stellen. Dazu gehören Deutschland und Frankreich. Bei der Erteilung von Asyl handele es sich um Einzelfallentscheidungen, in deren Rahmen Sicherheitsüberprüfungen erfolgen, versicherte Berlin. Eine Zwischenposition nimmt Finnland ein. Dort sind die Grenzen geschlossen für Russen, die mit einem Touristenvisum einreisen wollen. Gleichwohl kündigte Helsinki an, weiterhin Asylanträge zu bearbeiten .
Kritiker halten nichts von einer großzügigen Linie gegenüber jungen Russen
Rechtlich gesehen sei es klar, sagt Helena Hahn, Analystin der Brüsseler Denkfabrik European Policy Centre (EPC). Alle Mitgliedstaaten sind an das geltende Asylrecht gebunden. Doch nun gehe es vor allem um eine politische Frage. Bislang habe die Gemeinschaft stark auf Solidarität mit der Ukraine gesetzt, auch in Sachen Migration. Jetzt die Grenzen zu öffnen oder Russen Schutz zu bieten, sei auch eine Form von Solidarität – gegenüber dem Aggressor, wie Kritiker einer softeren Linie monieren. Für zahlreiche russische Männer, die sich auf der Flucht befinden, ergibt sich ein anderes Problem: Inwiefern können sie nachweisen, dass sie womöglich einen Einberufungsbescheid zum Militärdienst erhalten würden? Sie hat die Angst vor dem Kriegseinsatz zum Gehen getrieben.
EU-Parlamentarierin Lena Düpont (CDU) drängt auf eine „gemeinsame koordinierte Vorgehensweise“. Dabei müssten „die Interessen des Baltikums bei der Frage des Umgangs mit russischen Mobilisierungsverweigerern eine große Rolle spielen“. Dietmar Köster, außenpolitischer Sprecher der SPD-Europaabgeordneten, forderte „umgehend legale Einreisewege“ für Russen, „die sich nicht am Töten beteiligen und ihr Leben aufs Spiel setzen wollen“.
Nachdem der Rat der 27 Partner sich uneins zeigt, ist nun die EU-Kommission am Zug. Sie sei auf-gefordert, die Leitlinien zur Visavergabe „unter Berücksichtigung der Sicherheitsbedenken der Mitgliedstaaten zu überprüfen, zu bewerten und gegebenenfalls zu aktualisieren“, hieß es von der tschechischen Ratspräsidentschaft. EPC-Analystin Hahn könnte sich vorstellen, dass man sich auf humanitäre Visa einigt. Es wäre vorübergehend „die einfachste Option“.