Da stand es wieder. Das eigens für Liz Truss angefertigte Stehpult. Ein hölzernes Kunstwerk, das einer Spirale gleicht. Vielleicht wollte die 47-Jährige damit eine bessere Zukunft für die Menschen im Land andeuten. Schließlich versprach sie zu Beginn ihrer Amtszeit "Wachstum, Wachstum, Wachstum". Doch es kam anders. Am Donnerstagmittag verkündete die Politikerin an eben jenem Pult, an welchem sie vor nur 44 Tagen ihre Antrittsrede hielt, ihren Rücktritt.
Ihre Rede hätte kaum kürzer sein können. Nachdem sie rasch betonte, dass sie die Hilfsmaßnahmen für Haushalte in der Energiekrise auf den Weg gebracht hatte, sagte sie: "Ich habe mit dem König gesprochen, um ihm mitzuteilen, dass ich als Chefin der Konservativen Partei zurücktrete." Sie wolle als Premierministerin im Amt bleiben, bis ein Nachfolger gefunden ist. Dies solle schon kommende Woche geschehen.
Schon vor Rücktritt: Truss galt als angeschlagen
Für Truss war es ein Scheitern mit Ansage. Viele Experten hatten sie im Vorfeld davor gewarnt, ihre Steuersenkungen in Milliardenhöhe in der aktuellen wirtschaftlichen Lage durchzuboxen, welche die Märkte in den vergangenen drei Wochen in Aufruhr und die Menschen im Land in Panik versetzten.
Um die Lage in den Griff zu bekommen, kassierte der neu ernannte Finanzminister Jeremy Hunt diese Woche fast alle von ihr angekündigten Maßnahmen und darüber hinaus auch das Versprechen, die Energierechnungen für einen Zeitraum von zwei Jahren zu deckeln, ein. Danach sollte Truss bis Ende des Monats bleiben, hieß es. Chaotische Szenen in Westminster und weitere Kehrtwenden am Mittwochabend sorgten dafür, dass sie nun noch schneller ihren Hut nehmen musste.
"Nach zwölf Jahren gescheiterter Politik der Torys hat das britische Volk jetzt etwas Besseres verdient als dieses Chaos", sagte der Oppositionschef Keir Starmer nach Truss' Rücktritt. Die Konservativen hätten die Wirtschaft zum Absturz gebracht und dafür gesorgt, dass die Menschen Land hunderte Euro mehr aufbringen müssen, um ihre Hypothekenzinsen zu begleichen. Die Krisen seien in der Downing Street verursacht worden, müssten aber jetzt von der britischen Öffentlichkeit bezahlt werden. Labour befindet sich im Aufwind. Die Mehrheit der Briten würde sich im Fahl einer Wahl für sie entscheiden. Ob es dazu kommt, ist ungewiss.
Nach Rücktritt von Liz Truss: Wer könnte ihr Nachfolger sein?
Denn um einen "geregelten" Machtwechsel in ihrem Sinne zu ermöglichen, will sich die konservative Partei jetzt schnell auf einen gemeinsamen Nachfolger einigen. Denn einen wochenlangen Wahlkampf wie im Sommer will sie auf jeden Fall vermeiden. Das jedoch wird nicht einfach. Schließlich ist die Partei tief gespalten.
Aktueller Favorit ist Rishi Sunak. Der 42-Jährige schied im Sommer im Zweikampf, bei dem rund 150.000 Parteimitglieder über einen Nachfolger entschieden, gegen Truss aus. Seine Gegner halten ihm aber bis heute vor, dass er durch seinen Rücktritt vom Amt des Finanzministers Anfang Juli für den Sturz von Ex-Premier Boris Johnson verantwortlich sei. Weitere Favoriten sind die für Parlamentsfragen zuständige Ministerin Penny Mordaunt, Ex-Innenministerin Suella Braverman, Verteidigungsminister Ben Wallace und der frühere Verkehrsminister und jetzige Innenminister Grant Shapps. Die Mehrheit der Partei-Mitglieder hätte am liebsten Johnson zurück. Dieser plant Medienberichten zufolge eine erneute Kandidatur für den Posten. Er sagte am Donnerstag, dies sei im "nationalen Interesse". Der gerade erst ins Amt gekommene Finanzminister Jeremy Hunt lehnte eine Kandidatur angeblich umgehend ab.
Die Spekulationen über einen bevorstehenden Rücktritt der britischen Premierministerin nahmen am Donnerstagmittag Fahrt auf, nachdem sie sich in ihrem Regierungssitz mit dem Vorsitzenden des mächtigen 1922-Komitees der konservativen Fraktion Graham Brady traf. Das Gremium ist für die Wahl und Abwahl der Parteivorsitzenden zuständig. Seine Aufgabe war es, der Premierministerin klarzumachen, dass diese den Rückhalt in der Fraktion verloren hat. Es ist anzunehmen, dass er es war, der ihr den Rücktritt nahelegte. Spätestens als dann auch noch die Gesundheitsministerin und enge politische Vertraute von Truss, Therese Coffey, zu dem Treffen hinzukam, war klar: Es geht dem Ende zu.
Die Lage in London eskalierte am Donnerstag
Zur Eskalation der Lage am Donnerstag hatten Vorkommnisse beigetragen, die sich am Mittwochabend in Westminster abgespielten. Abgeordnete wurden vor einer Abstimmung von führenden konservativen Politikern in das House of Commons gedrängt, um gegen den durch die Labour-Partei eingebrachten Antrag zum Verbot von Fracking zu stimmen. Dabei war lange unklar, ob es sich um eine Vertrauensfrage handelt oder nicht. Augenzeugen berichteten von chaotischen Szenen. Es war von Geschrei die Rede und von Tränen. Der Labour-Antrag wurde zwar mit großer Mehrheit abgelehnt, doch viele konservative Abgeordnete sollen nur widerwillig gegen den Vorstoß votiert haben. Peter Ricketts, Mitglied des britischen Oberhauses und ehemaliger britischer Diplomat, beschrieb die Szenen als "beschämend". Die britische Tageszeitung The Mirror sprach von "absolutem Chaos" und für den Daily Express war es "kaum zu glauben". Der Sprecher des Parlaments, Lindsay Hoyle, sagte, dass in der Sache Ermittlungen aufgenommen wurden.
Kurz zuvor hatte Suella Braverman ihren Rücktritt als Innenministerin erklärt, nach nur 36 Tagen in dieser Rolle. In einem Brief räumte sie ein, dass sie kleinere Fehler gemacht habe und deshalb aus dem Amt scheide. Sie hatte gegen Sicherheitsregeln verstoßen, indem sie Informationen in privaten E-Mails weitergab. Gleichzeitig forderte sie Truss dazu auf, Verantwortung zu übernehmen. "Vorzutäuschen, dass wir keine Fehler gemacht haben und zu hoffen, dass sich die Dinge auf magische Weise zum Guten wenden, ist keine ernsthafte Politik", tadelte sie die frühere Parteichefin in ihrem Rücktrittschreiben.
Tories beklagen sich über "unentschuldbares" Chaos
Nach einem Abend der Tiefpunkte konnten viele Abgeordnete am Mittwoch ihren Frust nicht mehr für sich behalten. Der Tory Charles Walker bezeichnete das Chaos im Unterhaus als "unentschuldbar". Er sagte, dass er das Parlament bei den nächsten Wahlen freiwillig verlasse, warnte jedoch davor, dass "viele Hunderte" konservative Abgeordneter ihre Sitze verlieren würden, "wenn wir uns nicht zusammenreißen und uns wie Erwachsene verhalten". Denn schließlich haben aktuell viele Abgeordnete Angst davor, im Fall einer Neuwahl ihren Sitz und damit auch ihren Job sowie ihr Gehalt zu verlieren.
Dabei wären Neuwahlen im Interesse des Landes, wie Alan Wager von der Denkfabrk "UK in a changing Europe" sagte. Schließlich habe sich Truss mit ihrem neoliberalen Kurs weit von dem Parteiprogramm von 2019 entfernt, welches unter Boris Johnson geschnürt wurde. "Gewählt hat dafür aber niemand", betonte er. Somit diene der Versuch einen geregelten Übergang zum nächsten konservativen Premierminister nicht unbedingt Britinnen und Briten, sondern vor allem der konservativen Partei und deren Machterhalt bis zur nächsten Wahl, die unter normalen Umständen im Januar 2025 stattfinden wird.
Um den ideologischen Eifer zu erklären, mit dem Truss Großbritannien innerhalb nur weniger Wochen an den wirtschaftlichen Abgrund drängte, nannten britische Journalisten in den letzten Wochen immer wieder einen Namen: Friedrich Hayek. Der Ökonom rief in den 1940-Jahren die sogenannte "Mont Pelerin Society" ins Leben. Ihr Ziel war es, zukünftige Generationen von wirtschaftsliberalen Ideen zu überzeugen. "Hayek geht davon aus, dass es so etwas wie kollektive Intelligenz nicht gibt; der Staat weiß nichts", erklärte der Politologe Marc Stears einst. Nur einzelne könnten Zusammenhänge wirklich verstehen. 1955 rief Antony Fisher das Institute of Economic Affairs in London (IEA) ins Leben. Institutionen wie diese hätten in der Wissenschaft an Bedeutung gewonnen und auch Liz Truss beeinflusst, insbesondere während ihres Studiums an der University of Oxford, betonen Experten.
Wie sich dies in der politischen Praxis auswirkt, bekamen Britinnen und Briten in den vergangenen Wochen zu spüren. Experten bezeichneten es als gefährliches Experiment. Es ist ganz klar gescheitert. Truss' Pläne haben den Märkten nachhaltig geschadet, Menschen und Unternehmen Millionen von Pfund gekostet. Dabei steht der harte Winter, während dem die Menschen die Krise erst richtig zu spüren bekommen, erst bevor. Truss verlässt das Amt während einer der schwersten Krisen des Landes seit dem Zweiten Weltkrieg – ohne Plan und ohne Führung.