Das Telefonat zwischen der britischen Außenministerin Liz Truss und EU-Vizekommissionspräsident Maros Sefcovic fiel knapp aus. Nur 30 Minuten sprachen die beiden am Donnerstagmorgen. Viel zu sagen hatte man sich vermutlich auch nicht, denn die Fronten zwischen London und Brüssel sind verhärtet. Die Stimmung angesichts des Streites um das Nordirland-Protokoll ist eisig, mal wieder. Dabei handelte es sich um das erste Gespräch zwischen Truss und Sefcovic, seit das Vereinigte Königreich diese Woche damit gedroht hat, Teile des Brexit-Deals einseitig aufzukündigen.
Im Fokus Londons stehen dabei die Befugnisse des Europäischen Gerichtshofs in der nördlichen Provinz sowie die Beendigung einseitiger Kontrollen der Waren zwischen Nordirland auf der einen – und Schottland, Wales und England auf der anderen Seite.
Losgetreten wurde die erneute Eskalation zwischen London und Brüssel insbesondere durch die harte Haltung der protestantisch-unionistischen Democratic Unionist Party (DUP), die für einen Verbleib der Region im Königreich steht und möglichst eng mit London verflochten bleiben möchte. Die erzkonservative Partei weigert sich, gemeinsam mit der katholisch-nationalistischen Sinn-Fein-Partei zu regieren, aus Protest gegen das Nordirland-Protokoll.
DUP will Zollgrenze in der Irischen See aufheben
Die Partei, die sich ironischerweise einst für den Austritt aus der EU aussprach, fordert, dass die Zollgrenze in der Irischen See aufgehoben wird, da die Region angeblich großen wirtschaftlichen Schaden davontrage. Sie wurde im Zuge des Brexit-Deals mit der EU dorthin verlegt, um sichtbare Kontrollen zwischen Nordirland und Irland zu verhindern und so den Frieden in der Provinz zu sichern.
Durch die Drohungen der DUP, mit der sie die Region politisch lähmt, ließ Truss nach dem Gespräch mit dem EU-Vizekommissionspräsidenten verlauten, sei eben jener „Friede und die Stabilität“ in Nordirland nun jedoch in Gefahr. Falls die EU also nicht die erforderliche Flexibilität im Hinblick auf das Protokoll zeige, habe die britische Regierung „keine andere Wahl“, als eigenmächtig zu handeln.
Für die EU stellt sich die Lage jedoch anders dar. Der Rahmen für weitere Zugeständnisse sei ausgeschöpft, hieß es gestern. Tatsächlich hatte die Europäische Gemeinschaft im Oktober vergangenen Jahres bereits Änderungsvorschläge zugunsten Nordirlands gemacht. So sollten bestimmte Waren und Medikamente leichter gehandelt und der Papierkram reduziert werden. Würde Großbritannien seine Drohungen wahr machen und das Protokoll einseitig aufkündigen, könnte die EU Experten zufolge schlimmstenfalls den Brexit-Deal in seiner Gesamtheit auf Eis legen.
Menschen in Großbritannien leiden schon jetzt unter gestiegenen Preisen
Laut Experten wäre das für die Menschen in Großbritannien eine Katastrophe. Denn sie leiden jetzt schon unter den gestiegenen Preisen für Waren, Lebensmittel und Energie. Durch einen Handelskrieg würde sich die Lage auf der Insel weiter verschärfen. Welches Ziel verfolgt Boris Johnson also mit seiner harten Haltung?
„Es geht vor allem darum, die Brexit-Hardliner in der eigenen Partei zu befriedigen“, erklärte Jill Rutter von der Denkfabrik „UK in a Changing Europe”. Ob das langfristig eine gute Strategie ist, daran zweifeln nicht nur Politologen. Das Washingtoner Komitee zum Schutz des Karfreitagsabkommens beschrieb die Pläne des Vereinigten Königreichs diese Woche als „weder strategisch noch klug“. Darüber hinaus scheint auch die Taktik der ultrakonservativen DUP, die erst nach einer Änderung des Nordirland-Protokolls mitregieren will, Experten zufolge zweifelhaft.
Denn eigentlich profitiert die Wirtschaft in der Region von ihrem durch den Deal festgeschriebenen Sonderstatus. Schließlich haben nordirische Unternehmen einen privilegierten Zugang sowohl zum Binnenmarkt der EU als auch zum britischen Markt. Studien zeigen zwar, dass die vollständige Implementierung des Brexit-Abkommens Nachteile für die Wirtschaft in der Region hätte, an einer Aufhebung habe die Mehrheit der Bevölkerung jedoch keinerlei Interesse, wie eine repräsentative Umfrage der Queens University of Belfast belegt. Demnach hielten im Herbst letzten Jahres 51 Prozent das Protokoll für „eine gute Sache“.