Es brodelt zwischen der Europäischen Union und dem Vereinigten Königreich. Kurz bevor sich am Mittwochabend die Spitzen der EU-Kommission und der britische Staatsminister Michael Gove zu einem Krisengespräch zusammenschalteten, hatte Gove schon ordentlich die Stimmung geschürt. Grund ist ein Fehler der EU-Kommission vom vergangenen Freitag, als die offene Grenze zwischen Nordirland und Irland plötzlich geschlossen werden sollte. Es herrschten „Schock und Wut“, klagte Gove. Nach dem Gespräch mit Brüssel klang das schon friedlicher. Man versprach sich gegenseitig, für die „Sicherheit und das Wohlergehen“ der Menschen in Nordirland zu sorgen. Doch die Stimmung bleibt angespannt. Ein ranghoher EU-Diplomat sagte nach der abendlichen Videokonferenz: „Die Briten nutzen unser Eigentor, um daraus einen Heimsieg zu machen.“
Die Brexit-Regeln stoßen an Grenzen - im wahrsten Sinne des Wortes
Tatsächlich erweisen sich die Brexit-Regeln für die einstige Unruheprovinz Nordirland als schwierig. Das Nordirland-Protokoll im britischen EU-Austrittsvertrag sieht vor, dass die britische Provinz faktisch weiter zum EU-Binnenmarkt gehört. Das soll Kontrollen an der Grenze zwischen Nordirland und dem EU-Staat Irland verhindern. Dafür müssen Warentransporte aus dem übrigen Vereinigten Königreich nach Nordirland zum Teil kontrolliert werden. Um Probleme etwa bei der Lebensmittelversorgung zu vermeiden, gilt derzeit eine mehrmonatige Übergangsphase mit weniger umfassenden Kontrollen.
Die Vereinbarung enthält allerdings auch eine Schutzklausel, die von beiden Seiten angewendet werden kann, wenn „das Protokoll schwerwiegende und voraussichtlich anhaltende wirtschaftliche, gesellschaftliche oder ökologische Schwierigkeiten“ schafft. „Anwendung der Bestimmungen“ bedeutet, dass Nordirlands Mitgliedschaft im Binnenmarkt beendet wird.
Genau das hatte die EU-Kommission am vergangenen Freitag im Streit um den Corona-Impfstoff getan – ob unbedacht, leichtsinnig oder unbewusst sei dahingestellt. Die Brüsseler Behörde schlug jedenfalls vor, an der Grenze zu Nordirland Kontrollen einzuführen, um einen möglichen Impfstoff-Export zu kontrollieren.
Brüssel zog die Regelung zurück
Als auf der Insel ein Sturm des Protestes ausbrach, zog Brüssel die Regelung wenige Stunden darauf zurück. Zu spät. Doch das Eigentor war bereits geschossen. Seither vergeht kein Tag, an dem Premier Boris Johnson oder Gove nicht das schlechte Gewissen der Europäer schüren, um daraus politisches Kapital zu schlagen. „Die Briten wollten das Nordirland-Protokoll nie, jetzt sehen sie die Chance, es loszuwerden“, sagte ein EU-Diplomat dem Spiegel.
In Brüssel ist man davon überzeugt, dass die britische Regierung zu Hause massiv unter Druck steht, weil die Konsequenzen des Brexits erst jetzt spürbar werden. In fast allen Wirtschaftsbereichen gibt es große Probleme. Neuerdings geht dem Vereinigten Königreich sogar die Pappe aus, um Pakete zu versenden. Das sorgt für Spannungen.
London fordert die Verlängerung der Übergangsregel
Was die Regierung des Königreichs fordert, machte Gove in einem Schreiben nach Brüssel klar: Die zunächst bis Ende Juli befristete Übergangsregelung für die vollständige Einführung der Zölle solle bis zum Januar 2023 verlängert werden – und zwar für alle Produkte von Supermärkten, Arzneimittel, Stahl und künftig innerhalb der EU verbotene Fleischprodukte. Man brauche „langfristige Lösungen“.
EU-Experten verweisen tatsächlich auf etliche Schwierigkeiten, die sich ohne Korrektur des erst am Heiligabend 2020 beschlossenen Handelsvertrags ergeben würden. Beispiel: das Pflanzenschutzmittel Glyphosat. In Deutschland ist es verboten, die EU-Zulassung läuft 2022 aus. In Großbritannien darf es weiter genutzt werden. Sollte sich nichts ändern, müsste die nordirische Regierung also im nächsten Jahr den Import bestimmter britischer Lebensmittel verbieten. Für London ein willkommener Anlass, jede Gelegenheit zu nutzen, um das Nordirland-Protokoll samt der durch die Mitte des Königreichs verlaufenden Kontrollgrenze loszuwerden.
Lesen Sie auch:
- Kommentar: London punktet im Nordirland-Streit
- Werden Ursula von der Leyen die Impfprobleme zum Verhängnis?
- Folgen des Brexits: Leere Regale und vergammelte Lebensmittel
Wir wollen wissen, was Sie denken: Die Augsburger Allgemeine arbeitet daher mit dem Meinungsforschungsinstitut Civey zusammen. Was es mit den repräsentativen Umfragen auf sich hat und warum Sie sich registrieren sollten, lesen Sie hier.