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Brexit: Brexit: Jetzt wollen auch noch die Schotten davonlaufen

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Brexit: Jetzt wollen auch noch die Schotten davonlaufen

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    Auf und davon: Was 2014 nicht gelang, will die schottische Regierung jetzt noch einmal in Angriff nehmen. 59  Prozent der Schotten sind für eine Trennung von Großbritannien.
    Auf und davon: Was 2014 nicht gelang, will die schottische Regierung jetzt noch einmal in Angriff nehmen. 59 Prozent der Schotten sind für eine Trennung von Großbritannien. Foto: Graham Stuart, dpa

    Mandy dachte, ihre Stimme hätte kein Gewicht. Adam war der Meinung, sein Votum zähle nicht. Lauren erging es ebenso. Hazel auch. Alle vier sind um die 20 und haben beim Referendum für den Austritt gestimmt. Und nun? Sind sie am Boden zerstört, nachdem das Pfund abgestürzt ist, die Wirtschaft gefährlich zu wackeln beginnt, Premierminister David Cameron seinen Rücktritt angekündigt hat und es um nichts weniger geht als um die Zukunft des Königreichs.

    Sie haben es nicht so gemeint, entschuldigen sich die Mandys, Adams, Laurens und Hazels dieses Landes, und würden ihre Entscheidung gerne rückgängig machen. Sie gehören zu den etlichen „Bregretters“ – ein Wortspiel aus Regret (Bedauern) und Britain –, die sich nun in sozialen Medien und in der Presse melden. Andere fühlen sich betrogen von den Wortführern der „Leave“-Kampagne, den Konservativen Boris Johnson und Michael Gove sowie dem Chef der Unabhängigkeitspartei Ukip, Nigel Farage.

    Der hat sich schon am Freitagmorgen von einem der zentralen Versprechen der Brexiteers distanziert. 350 Millionen Pfund sollten künftig jede Woche ins nationale Gesundheitssystem fließen statt nach Brüssel, hatten sie gefordert. War wohl doch nicht so gemeint.

    Viele Briten bereuen ihr Votum für den Brexit

    „Ich habe fürs Gehen gestimmt, weil ich diese Lügen geglaubt habe, und ich bereue es mehr als alles andere“, schreibt Katy unter dem Hashtag #WhatHaveWeDone auf Twitter. Als das Boulevardblatt Daily Mail, das mit der Sun am lautesten für den Brexit getrommelt und dafür vor allem Ängste gegen Einwanderung geschürt hat, in einem Bericht die Folgen aufzeigt, löst das einen Sturm der Entrüstung aus. Im Artikel heißt es, das Pfund sei nun weniger wert, weshalb Urlaube mehr kosten werden. Dass die Renten an Wert verloren haben, die Briten bald nicht mehr ohne Einschränkungen innerhalb der EU arbeiten, studieren und reisen können und es teurer wird, ein Ferienhaus in Spanien zu kaufen.

    „Die Remain-Kampagne hat also die Wahrheit erzählt“, schreibt Victor aus Leeds. „Ich habe vor dem Referendum hier nie solch einen informativen Artikel gelesen“, beschwert sich die 42-jährige Anne. „Viele Leute dachten, das war alles nur Panikmache der Befürworter eines Verbleibs, deshalb wählten wir mit unseren Herzen ,Out‘. Aber nun haben wir die Sorge, dass das keine gute Idee war“, sagt der Engländer John.

    Überhaupt, wo haben sie sich am Wochenende versteckt? Boris, wie er nur genannt wird, und Farage? Boris Johnson lässt sonst keine Möglichkeit für einen großen Auftritt aus. Jetzt ist er abgetaucht. Ist ja auch eine schwierige Situation in seiner Partei. Der Premier auf gepackten Koffern, Johnson zwar Favorit auf seine Nachfolge, aber die Zahl der Widersacher ist groß. Jetzt gehen die Grabenkämpfe richtig los.

    Das gilt auch für Labour. Parteichef Jeremy Corbyn entlässt einen seiner schärfsten Kritiker aus dem Schattenkabinett. Sieben Schattenminister treten daraufhin zurück. Heute will die Fraktion über einen Misstrauensantrag gegen Corbyn entscheiden. Es droht eine Revolte.

    Mehr als drei Millionen Briten fordern ein zweites Referendum über den Brexit

    Und wo ist der Plan fürs Brexit-Paradies, das Johnson und Farage im Wahlkampf in leuchtenden Farben aufmalten, ohne dabei konkret zu werden? Sie sind gleich mit ihren Versprechen konfrontiert worden. Cornwall etwa, das am meisten Geld aus den Fördertöpfen der EU eingestrichen und dennoch mehrheitlich für den Brexit gestimmt hat, hat nur wenige Stunden nach dem Votum auf Ausgleichszahlungen aus der britischen Staatskasse bestanden. Johnson und Co. hatten das versprochen. In diesem erbittert geführten und hoch emotionalen

    Wer soll die Briten nun aus der EU führen? „Dass Cameron uns einfach im Stich lässt, ist unmöglich“, findet einer, der sich als Peter vorstellt und für den Brexit gestimmt hat – gegen die Empfehlung der Regierung. Peter findet, der Premier hätte die Pflicht gehabt, die Verhandlungen mit der EU zu führen. Willkommen im Königreich Utopia.

    Auf den Straßen und im Internet organisiert sich nun die Protestbewegung. Mehr als drei Millionen Menschen haben bis Sonntagnachmittag eine offizielle Petition unterzeichnet, in der sie ein zweites Referendum fordern. Zudem wurde eine weitere Petition aufgesetzt, die die Unabhängigkeit Londons erreichen will. In der Metropole hat die überwiegende Mehrheit ebenfalls für den Verbleib gestimmt.

    Frustriert demonstrieren vor allem junge Menschen vor dem Parlament und der Downing Street, in dessen Nummer zehn wohl bald ein neuer Premier einziehen wird. „Ich bin nicht Britin, sondern Europäerin“, steht auf einem Plakat. EU-Flaggen wehen, eine Frau, übergossen mit künstlichem Blut, hält ein Schild in die Höhe: „Brexit – was für ein blutiger Witz“. Ein anderer sitzt vor einem Poster, auf dem es heißt: „Ich gehe nicht“. Sie fühlen sich von der älteren Generation um ihre Zukunft betrogen. Verraten. Verkauft.

    Die Zahlen sind ziemlich klar. 64 Prozent der 18- bis 24-Jährigen votierten für den EU-Verbleib. Dagegen stimmten 58 Prozent der über 65-Jährigen für den Brexit. Dies zeigt, welch tiefer Riss sich durch die Gesellschaft zieht. Ein Generationenkonflikt – und ein Kulturkampf, der Land und Leute spaltet.

    ---Trennung _Wie geht es weiter mit Großbritannien?_ Trennung---

    Spalten sich Schottland und Nordirland jetzt von Großbritannien ab?

    Unter Umständen wird die Teilung bald sogar im wörtlichen Sinne vollzogen. Keiner weiß, was noch in Nordirland passiert. Ist ein Zusammenschluss mit Irland nun keine Utopie mehr? Und Schottland? Nicola Sturgeon, Vorsitzende der dortigen Nationalpartei SNP und Erste Ministerin des Landesteils, hat schon am Freitag mit einem zweiten Unabhängigkeits-Referendum gedroht. Gestern bekräftigt sie die Autonomiebestrebungen.

    Zwar müsste die Regierung in London einem Referendum zustimmen. Gleichwohl sehen die Schotten ein starkes Argument auf ihrer Seite: Sie haben sich mehrheitlich für den EU-Verbleib ausgesprochen, wurden aber von England überstimmt. „Der Kontext und die Umstände haben sich dramatisch verändert“, sagt Nicola Sturgeon selbstbewusst.

    2014 haben sich die Schotten gegen die Unabhängigkeit ausgesprochen. Doch das Vereinigte Königreich, für das die Menschen damals gestimmt haben, „existiere nun nicht mehr“, sagt Sturgeon. Eine neue Umfrage zeigt, dass 59 Prozent der Schotten für die Unabhängigkeit stimmen würden. Bricht das Königreich bald auseinander?

    Alex Pett hat am Freitag geweint. Die 38-Jährige hätte nie gedacht, dass es so weit kommen könnte. Und noch weniger, dass eine politische Entscheidung sie so aufwühlen würde. „Was bedeutet das für meine Kinder, für mich, für mein Unternehmen?“ Fragen, die die leidenschaftliche Pro-Europäerin begleiten, seit sie am Morgen um halb sieben aufwachte und ihr Handy vor Nachrichten überquoll.

    Sie betreibt eine Webseite, über die Briten Mode von Designern vom Kontinent bestellen können. Für die Auswahl der Kleider reist sie etliche Male im Jahr von London nach Italien, Frankreich, Spanien. „Europa befand sich vor der Haustür. Nun habe ich das Gefühl, es ist nicht mehr da“, sagt sie. Ihr Start-up hat erst in den vergangenen sechs Monaten Schwung aufgenommen, jetzt fragt sich Alex Pett, wie es weitergehen soll. Ohne Zugang zu EU-Fördermitteln, dafür mit vermutlich höheren Lieferkosten, die die ohnehin kleine Gewinnmarge auffressen könnten. „Ich schäme mich so für mein Land“, sagt sie. Großbritannien habe bewiesen, dass es rückwärtsgewandt ist. „Das ist nicht das Land, in dem ich leben will.“

    Vor allem die Menschen auf dem Land stimmten für den Brexit

    Bexleyheath, gut 20000 Einwohner, am östlichen Rand Londons. Es ist die größte Stadt im Bezirk

    Wer wissen will, welche Stimmung in der Kommune herrscht, geht zum Friseur. Seit 1953 werden bei „Lee’s“ die Haare von Männern gestutzt. Am Samstagmittag sitzen Eigentümer Lee und seine beiden Friseurinnen Julie und Fay auf aufgebockten Drehstühlen wie im Schaufenster und warten auf Kundschaft. An der Scheibe hängt etwas traurig eine England-Fahne. Weder Lee noch Julie haben gewählt. Sie „wussten nicht was“. Es mache sowieso keinen Unterschied, findet der Ladenchef. „Die in Europa wollen uns immer noch.“ Oder? So richtig überzeugt wirkt er nicht.

    Der Großteil der Kunden hat für den Austritt gestimmt, „die Alten und die, die Geld haben“, resümiert Lee. Seit Freitagmorgen aber wächst die Unsicherheit. „Viele haben nun Angst um ihre Renten. Einer hat erzählt, dass er seine Ersparnisse abgehoben und unter dem Bett versteckt hat“, sagt Julie und blickt nach draußen. Es herrscht gähnende Leere. Dunkle Wolken schieben sich vor die Sonne. „Oh dear“, sagt sie. „Es wird regnen.“

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