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Bildung: Chancengleichheit für Arbeiterkinder? Fehlanzeige!

Bildung

Chancengleichheit für Arbeiterkinder? Fehlanzeige!

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    Kinder, die als Erstes in ihren Familien studieren, haben weiterhin mit besonderen Hürden zu kämpfen.
    Kinder, die als Erstes in ihren Familien studieren, haben weiterhin mit besonderen Hürden zu kämpfen. Foto: Rolf Vennenbernd, dpa (Symbolbild)

    In den vergangenen zehn Jahren hat sich bei der Bildungsgerechtigkeit in Deutschland kaum etwas getan. Kinder aus sogenannten bildungsfernen Familien mit Migrationsgeschichte und weniger Einkommen gehen deutlich seltener aufs Gymnasium als Kinder von Eltern mit Abitur und höherem Einkommen. Das bestätigte eine Untersuchung des Ifo-Instituts. In der Folge ist auch die Wahrscheinlichkeit, dass diese Kinder studieren, signifikant geringer. Und das, obwohl Angela Merkel schon 2008 die "Bildungsrepublik Deutschland" ausgerufen hatte mit dem Ziel: "Bildung für alle". 

    John Spasiano erinnert sich gut an den Moment, an dem ihm "ein Licht aufging". In seinem Soziologie-Studium beschäftigte er sich mit Themen wie soziale Ungleichheit und Bildungsungerechtigkeit. Und mit einem Mal wurde dem 24-Jährigen klar, dass viele seiner Probleme strukturell begründet waren – und nichts mit ihm als Mensch zu tun hatten. Seine Eltern haben beide nicht studiert, zwei seiner Schwestern schon. Er beschreibt, dass er "ziemlich naiv" an das Studium herangegangen ist und sich vieles hart erarbeiten musste. Besonders die akademische Sprache sei zwar häufig sehr präzise – aber auch ein "Instrument zur Abgrenzung", wie er es ausdrückt. 

    Die Organisation Arbeiterkind.de unterstützt Kinder aus Nicht-Akademikerfamilien beim Studium

    Seit gut einem halben Jahr arbeitet Spasiano ehrenamtlich in der Regionalgruppe Erlangen-Nürnberg-Fürth der gemeinnützigen Organisation Arbeiterkind.de, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, Kinder zu unterstützen, die als Erste in ihren Familien studieren. Spasiano möchte ihnen zeigen, dass sie mit ihren Problemen nicht allein sind. 

    Auch Werner Grescher engagiert sich in Kempten ehrenamtlich für die Organisation. Der 70-Jährige sagt: "Die Motivation dafür kommt ganz klar aus meiner Biografie." Er war der Erste und Einzige in seiner Familie, der damals studierte – und hätte sich damals "auf jeden Fall mehr Unterstützung gewünscht". Heute möchte er junge Menschen dazu ermuntern zu studieren, besonders solche, die keine finanzstarken Eltern haben. Dabei gehe es ihm keinesfalls darum, dass alle um jeden Preis an die Uni gehen – aber sie sollen zumindest die gleiche Chance haben, sich dafür zu entscheiden. 

    Im "Ein Herz für Kinder"-Chancenmonitor des Ifo-Instituts untersuchen die Forschenden anhand des Mikrozensus 2019 die soziale Durchlässigkeit und die Chance auf sozialen Aufstieg in Deutschland. Der Mikrozensus ist die größte deutschlandweite Haushaltsbefragung. Um die Bildungsgerechtigkeit zu bestimmen, ermitteln sie Kinder zwischen zehn und 18 Jahren und deren familiären Umstände. Darunter fallen die Fragen: Haben die Eltern Abitur? Haben sie einen Migrationshintergrund? Ist ein Elternteil alleinerziehend? Wie hoch ist das monatliche Einkommen?

    Vor allem die Bildung und das Einkommen der Eltern beeinflussen noch immer die Wahrscheinlichkeit, ob ein Kind aufs Gymnasium geht

    Basierend auf diesen Daten berechnen die Forschenden die Wahrscheinlichkeit, dass das Kind ein Gymnasium besucht. "Das heißt nicht, dass alle Kinder das Gymnasium besuchen sollen", betont auch Vera Freundl vom Ifo-Institut, "sie sollten aber dieselben Chancen haben." Vor allem Bildung und Einkommen der Eltern beeinflussen diese Wahrscheinlichkeit. Am größten ist der Unterschied zwischen Kindern aus Familien, in denen kein Elternteil Abitur hat, und das Nettohaushaltseinkommen unter 2600 Euro monatlich liegt (etwa 21 Prozent) und denen, deren Elternteile beide Abitur haben, das Einkommen monatlich über 5500 Euro liegt und die Eltern nicht alleinerziehend sind (etwa 80 Prozent). "Das zeigt, dass in Deutschland aktuell keine Chancengleichheit herrscht", sagt Freundl. 

    Auch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Arbeiterkind.de beobachten, dass Studieren weiterhin stark mit der finanziellen Lage des Elternhauses zusammenhängt – und das, obwohl es seit Jahren keine Studiengebühren mehr gibt. "Die Lage spitzt sich immer mehr zu", sagt Pressesprecher Pablo Ziller. Denn Studierende mit wenig finanziellen Mitteln treffen Inflation, steigende Energie- und Lebensmittelpreise und der Mangel an bezahlbarem Wohnungen besonders hart. Nicht wenige entscheiden sich seines Wissens deswegen schon vorab gegen ein Studium. Mit hinein spielt allerdings auch, dass viele Schülerinnen und Schüler aus Nicht-Akademikerfamilien häufig ein Wissensdefizit haben: Viele kennen sich nicht gut genug mit Themen wie Bafög oder Stipendien aus – und sind dadurch "klar im Nachteil", wie Ziller sagt, was die Organisation durch Schulbesuche, Infostände und andere Aktionen versuche zu verbessern.

    Für mehr Chancengleichheit ist die Verbesserung der frühkindlichen Bildung essenziell

    Um die Chancengleichheit bei der Bildung zu vergrößern, müsse man laut Freundl schon bei der frühkindlichen Bildung ansetzen. "Das Potenzial, dass Kinder sich entfalten können, hängt stark von äußerlichen Einflüssen ab", sagt sie. Ein großer Faktor ist dabei der familiäre Hintergrund. "Je früher man eingreift, desto besser", sagt die Expertin, denn "Bildungsungerechtigkeit beginnt früh und zieht sich über alle Bildungsstufen hinweg." So könne man bildungsferne Eltern mit Informationen und personalisierten Maßnahmen unterstützen, damit sie Kita-Plätze und andere Betreuungsangebote wahrnehmen. "Studien zeigen, dass diese Gruppen die Angebote am wenigsten nutzen, obwohl sie am meisten davon profitieren." Zudem müsse man Angebote ausbauen, um Eltern bei der Erziehung zu unterstützen. 

    Die Forschenden empfehlen zudem, die besten Lehrkräfte oder mehr Hilfskräfte an Schulen mit vielen benachteiligten Kindern einzustellen und früh kostenlose Nachhilfeangebote zu schaffen. Außerdem sei die schulische Aufteilung nach der vierten Klasse in Deutschland verfrüht. "Im internationalen Vergleich belegt die Forschung, dass die frühzeitige Aufteilung auf weiterführende Schulen die Ungleichheit bei den Schülerleistungen erhöht", heißt es im Bericht. "Es ist wichtig, dass dabei alle Akteurinnen und Akteure gefordert werden und in unserer Gesellschaft Chancengerechtigkeit hergestellt wird", sagt Freundl. 

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