Das Massaker der Hamas an 1200 Israelis lag keine zwei Wochen zurück, als Joe Biden im vergangenen Oktober für einen siebenstündigen Besuch nach Tel Aviv flog. Es war ein Zeichen der uneingeschränkten Unterstützung des jüdischen Staates durch seinen wichtigsten Verbündeten. "Es muss Gerechtigkeit geübt werden", sagte der US-Präsident. Aber er mahnte auch: "Lassen Sie sich nicht von der Wut beherrschen!"
In den folgenden sieben Monaten des Gaza-Kriegs hat Biden immer wieder versucht, den israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu zur Rücksicht auf Zivilisten und die Orientierung auf eine Zweistaatenlösung zu drängen. Ein ums andere Mal hat er sich stillschweigend von Netanjahu düpieren lassen, während gleichzeitig der innenpolitische Druck von jungen Wählern und linken Demokraten auf ihn stieg. Doch nun scheint für Biden die rote Linie erreicht zu sein: Ohne diplomatische Umschweife erklärt der 81-Jährige, dass die USA keine Waffen für einen Großangriff auf die Stadt Rafah im Süden des Gazastreifens liefern werden.
Krieg in Nahost: Bidens Frust über Netanjahu wächst
"Es ist einfach falsch", kommentierte Biden in einem Interview mit dem Fernsehsender CNN am amerikanischen Mittwochabend israelische Pläne für eine umfassende Invasion in der mit mehr als einer Million palästinensischen Flüchtlingen überfüllten Stadt. Washington werde Israel weiter mit Waffen zur Verteidigung versorgen, sagte Biden. Aber: "Ich habe Bibi (dem israelischen Ministerpräsidenten Netanjahu, d. Red.) klar gesagt, dass sie keine Unterstützung bekommen, wenn sie in die Stadt gehen."
Auf Nachfrage erläuterte Biden, er sehe diese "rote Linie" durch das Vorrücken der israelischen Armee zum Grenzübergang Rafah noch nicht überschritten: "Was sie gemacht haben, war direkt an der Grenze." Sollte es aber zu einem Großangriff auf das überfüllte Bevölkerungszentrum kommen, werde er Waffen, "die bei solchen Einsätzen in der Vergangenheit benutzt wurden", zurückhalten. Dazu gehörten nicht nur Bomben, sondern auch Artilleriemunition, sagte Biden.
Netanjahu-Regierung bereitet Rafah-Offensive vor
Die Ankündigung, die bei der israelischen Regierung und den US-Republikanern auf scharfe Kritik stieß, signalisiert die wachsende Frustration des Präsidenten über die Netanjahu-Regierung, die offensichtlich andere Ziele verfolgt: Während Washington die humanitäre Katastrophe in Gaza eindämmen will und über alle Kanäle Druck für einen Waffenstillstand macht, setzt Jerusalem auf die Zerstörung der Hamas mit bedingungsloser militärischer Härte.
Während in der vergangenen Woche fieberhaft über eine Feuerpause verhandelt wurde, bereitete die Netanjahu-Regierung die Rafah-Invasion vor. Am Montag ließ sie Flugblätter abwerfen, mit denen 100.000 Flüchtlinge aufgefordert wurden, die Stadt zu verlassen – ohne einen geeigneten Rückzugsort. Am Dienstag besetzte das israelische Militär den Grenzübergang.
Die Republikaner fordern Biden auf, die Entscheidung zurückzunehmen
Washington wollte nach amerikanischen Medienberichten sein Missfallen über die drohende weitere Eskalation des Krieges, in dem bereits 34.000 Palästinenser getötet wurden, zunächst vertraulich signalisieren. Die US-Regierung ließ die Israelis wissen, dass sie die anstehende Lieferung von insgesamt 3500 schweren Bomben zurückhalte. Doch die Israelis streuten die Information, was zu Empörung bei den US-Republikanern führte. In einem gemeinsamen Brief forderten Mike Johnson, der Sprecher des Repräsentantenhauses, und Mitch McConnell, der Minderheitsführer im Senat, die Revision der Entscheidung.
Stattdessen macht Biden mit seiner Drohung, im Falle eines Rafah-Einmarsches auch keine Artilleriemunition mehr zu liefern, seine wachsende Verärgerung nun öffentlich. "Ich habe Bibi damals gesagt: Mache nicht denselben Fehler wie die Vereinigten Staaten (nach dem Terroranschlag vom 11. September 2001, d. Red.)", erinnerte er in dem CNN-Interview noch einmal an seine Mahnung vom vergangenen Oktober. Unausgesprochen schwang der Vorwurf mit, Netanjahu habe diesen Ratschlag missachtet.
Trump: "Biden stellt sich auf die Seite der Terroristen"
Ob Bidens Erklärung seinen Kritikern in den USA ausreicht, die ihm Beihilfe zu einem "Völkermord" vorwerfen, muss sich zeigen. Pramila Jayapal, die Sprecherin des linken Demokraten-Flügels im Repräsentantenhaus, lobte in einer Erklärung ausdrücklich den "wichtigen Wendepunkt in dem Krieg". Hingegen warf der republikanische Parlamentssprecher Johnson dem Präsidenten einen "Verrat" des Verbündeten Israel vor.
"Biden stellt sich auf die Seite der Terroristen", behauptete auch Ex-Präsident Donald Trump. Vor seinem Gerichtstermin am Donnerstag polterte der Mann, der Teilnehmer des antisemitischen Neonazi-Aufmarsches von Charlottesville 2017 als "sehr gute Leute" bezeichnet hatte: "Falls irgendeine Person jüdischen Glaubens Biden wählt, soll sie sich schämen."