Die alten Herren auf den Ehrenrängen sind erkennbar bewegt, als ihr Präsident spricht. Er rühmt ihre Tapferkeit und jene ihrer Mitkämpfer, die vor 80 Jahren hier an den Stränden der Normandie gefallen sind. „Diese mutigen Soldaten haben bewiesen, dass die Freiheit stärker ist als die Tyrannei“, ruft Joe Biden in Colleville-sur-Mer. Einer der Männer wischt sich verstohlen mit dem Taschentuch über die Augen. Viele sitzen in Rollstühlen, eingewickelt in warme Decken, damit ihre Beine nicht auskühlen. Alle sind um die 100 Jahre alt. Als Veteranen des „D-Days“ wurden sie zum 80-jährigen Gedenken dorthin eingeladen, wo sie einst als junge Soldaten um ihr Leben und gegen die deutsche Wehrmacht kämpften.
„D-Day“: Allein am ersten Tag starben 10.500 Alliierte
US-Präsident Biden reiste an, um ab Samstag einen Staatsbesuch in Frankreich zu absolvieren und zuvor an der französischen Küste an jenen sogenannten „längsten Tag“ zu erinnern, an dem mehr als 150.000 alliierte Soldaten an fünf Stränden der Normandie landeten. Dies leitete die größte Militäroperation der Geschichte mit dem Decknamen „Overlord“ ein, die in den folgenden Monaten die Befreiung Europas vom Hitler-Faschismus ermöglichte. Doch angesichts der Zigtausenden von Opfern handelte es sich am Donnerstag nicht um eine triumphale Erinnerungsfeier. Alleine am ersten Tag, dem „D-Day“, zählten die Alliierten 10.500 Tote. Gerechnet hatten sie allerdings mit noch weit mehr. Die riskante Operation wurde trotz der vielen Verluste zu einem Erfolg.
Die Zeremonie war geprägt von militärischen Ehren, feierlichen Ansprachen, berührenden Zeitzeugenberichten. Im Zentrum der Aufmerksamkeit standen die mehr als 200 anwesenden Veteranen, die vor allem aus den USA, aber auch aus Kanada und dem Vereinigten Königreich gekommen waren. Kinder und Jugendliche aus der Region überreichten ihnen jeweils eine weiße Rose.
Macron findet bewegende Worte beim D-Day-Gedenken
Manche der britischen Veteranen durften an einem Tisch mit König Charles und Königin Camilla zu Mittag essen. Elf US-Veteranen machte Frankreichs Präsident Emmanuel Macron zu Rittern der Ehrenlegion, was die höchste Auszeichnung des Landes darstellt. Sie stünden für ein Volk, das bereit gewesen sei, „auf einem Boden zu sterben, der nicht der ihre war, für eine Sache, die die ihre war“, so drückte es Macron bei seiner Ansprache aus. „Die freie Welt brauchte jeden Einzelnen von Ihnen, und Sie waren da.“
Doch es ging an diesem Gedenktag nicht nur um die Geschichte, sondern auch um die Gegenwart. Joe Biden zog während der franko-amerikanischen Feier in Colleville-sur-Mer eine deutliche Parallele zu Russlands Invasion in die Ukraine. Die Kräfte des Bösen seien immer noch da, der Kampf um die Freiheit müsse von jeder Generation erneut geführt werden, auch heute in der Ukraine. Diese müsse siegen, rief Biden: „Es ist unzulässig, gegenüber einem Diktator klein beizugeben.“ Die Demokratie sei so sehr in Gefahr wie seit Ende des Zweiten Weltkriegs nicht mehr.
Einladung für Selenskyj rückt Geschichte in die Gegenwart
Ein ähnliches Signal sandten auch die Organisatoren der Feierlichkeiten aus, indem sie den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj zur internationalen Feierstunde am Nachmittag am Omaha Beach, dem Strand, an dem besonders viele alliierte Soldaten starben, einluden. Als er und seine Frau Olena Selenska über den roten Teppich zu ihren Plätzen gingen, erhielt das Paar stehende Ovationen. Am Freitag wird Selenskyj in der französischen Nationalversammlung eine Rede halten und von Macron empfangen.
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Auf der Ehrentribüne fanden sich zudem der kanadische Premierminister Justin Trudeau, der britische Premier Rishi Sunak, Prinz William, Polens Präsident Andrzej Duda und Bundeskanzler Olaf Scholz ein. Scholz betonte in einem Namensartikel in der großen französischen Regionalzeitung Ouest France, dass der „D-Day“ auch für Deutschland selbst ein Schritt zur Befreiung gewesen sei.
Vor zehn Jahren war Putin noch in der Normandie dabei
Vertreter Russlands waren nicht präsent. Hatte es zunächst geheißen, die Einladung russischer Diplomaten sei angedacht, um den wesentlichen Beitrag der Roten Armee am Sieg über die Wehrmacht zu würdigen, so wurde aufgrund der Intensivierung der Angriffe gegen die Ukraine darauf verzichtet.
Beim 70-jährigen Gedenken am 6. Juni 2014 war der russische Präsident Wladimir Putin noch zugegen, trotz des völkerrechtswidrigen Anschlusses der Krim wenige Monate zuvor. Frankreichs Präsident François Hollande und die deutsche Kanzlerin Angela Merkel bestanden damals auf eine Begegnung Putins mit dem damaligen ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko, starteten Vermittlungsversuche im Vierer-Format. Doch diese konnten nicht verhindern, dass 80 Jahre nach Beginn der Befreiung Europas von den Nazis wieder ein Krieg in Europa wütet.