Auf einer unscheinbaren Treppe im einsamsten Winkel des Weihnachtsmarkts auf dem Berliner Breitscheidplatz liegen Blumen. Die Stufen vor der Turmruine der im Zweiten Weltkrieg schwer beschädigten Kaiser-Wilhelm Gedächtniskirche sind mit 13 Namen graviert. Ein paar Grablichter flackern noch, doch die meisten hat der kalte Wind ausgeblasen. Eine junge Frau im Daunenmantel nimmt eines in die Hand, hält ein kleines Feuerzeug an den Docht. Es dauert eine Weile, bis er brennt. Während nur ein paar Meter weiter in mit hunderten bunten Glühbirnchen geschmückten Buden gebrannte Mandeln und Christbaumschmuck aus dem Erzgebirge angeboten werden, verharrt sie ein paar Minuten mit gesenktem Kopf in stillem Gedenken. Später erzählt sie, dass sie die Kerze für die Mutter einer lieben Bekannten angezündet hat – eines der 13 Todesopfer des bislang schlimmsten islamistischen Terrorakts auf deutschem Boden.
Fünf Jahre nach Anschlag auf Breitscheidplatz sind viele Fragen offen
An diesem Sonntag jährt sich der verheerende Anschlag, bei dem der Tunesier Anis Amri einen entführten Lastwagen in den Weihnachtsmarkt im Herzen der Hauptstadt steuerte, zum fünften Mal. Ein golden ausgegossener Riss, der durch das Pflaster geht, erinnert an die schreckliche Tat, die bis heute viele Fragen aufwirft. Wie konnte es zu dem Terroranschlag kommen? Hätte er verhindert werden können? Und wurde zu seiner Aufklärung wirklich genug unternommen? Die Suche nach Antworten lässt auch Benjamin Strasser nicht los. Eben erst wurde der FDP-Abgeordnete aus Ravensburg zum Parlamentarischen Staatssekretär im Justizministerium berufen, das nun sein Parteifreund Marco Buschmann führt. Das neue Büro in der Berliner Mohrenstraße ist noch fast leer, nur die wichtigsten Gesetzbücher stehen im Regal.
Die Fakten zum Anschlag hat der 34-Jährige im Kopf. Als Obmann der FDP-Fraktion im Untersuchungsausschuss des Bundestags zum Terror auf dem Berliner Breitscheidplatz, der seine Arbeit im Sommer abgeschlossen hat, kennt er die Akten zu dem Fall wie kaum ein anderer. Im Gespräch mit unserer Redaktion sagt er: „Im Untersuchungsausschuss hat sich gezeigt, dass das Gemeinsame Terrorismus-Abwehrzentrum, das GTAZ, nicht gut genug funktioniert. Anders als der Name klingen mag, ist das keine schlagkräftige Behörde mit klaren Hierarchien und Entscheidungsstrukturen. Es ist vor allem ein großer Schreibtisch hier in Berlin, an dem sich die Sicherheitsbehörden austauschen, die an einem bestimmten Fall arbeiten – ohne dass es für diese Zusammenarbeit eine gesetzliche Grundlage gibt.“
In den Fall Amri waren aufgrund dessen hoher Mobilität viele Behörden aus ganz Deutschland eingebunden: Landeskriminalämter, Geheimdienste und das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Erkenntnisse über die Gefährlichkeit des jungen Islamisten lagen in großen Mengen vor. Doch, so Strasser: „Informationen wurden zu spät oder gar nicht geteilt. Getroffene Absprachen wurden nicht eingehalten. Zu oft galt: Es waren viele zuständig, aber keiner verantwortlich.“ Deshalb müsse das GTAZ jetzt dringend auf eine gesetzliche Grundlage gestellt werden. „Das haben wir als Ampel-Koalition vereinbart und werden es zügig umsetzen. Künftig müssen bei der Terrorabwehr Verantwortlichkeiten klar sein und ein Verstoß gegen getroffene Absprachen auch rechtliche Konsequenzen haben“, sagt der Staatssekretär.
Behörden werden früh auf Anis Amri aufmerksam
Auf Amri waren die Sicherheitsbehörden schon mehr als ein Jahr vor der Tat, im Herbst 2015, aufmerksam geworden. Das war kurz nach seiner Einreise nach Deutschland im Juli. Als junger Mann wurde Amri in seiner Heimat Tunesien straffällig, unter anderem stahl er einen Lastwagen. Vor der Polizei flüchtete er 2011 in einem Boot nach Italien. Dort zündete er ein Flüchtlingsheim an und musste vier Jahre in Haft. Weil Tunesien aber keine Ersatzpapiere bereitstellte, konnte er danach nicht in seine Heimat abgeschoben werden. So gelang es Amri, über die Schweiz nach Deutschland zu kommen. Für Benjamin Strasser beginnt eine unglaubliche Serie von Behördenversagen schon an der Grenze. Dort habe er selbst auf dem Formular seinen korrekten Nachnamen Amri durchstreichen und stattdessen „Amir“ eintragen können. Die Folge: Informationen im Schengen-Informationssystem über seine kriminelle Vergangenheit ließen sich ihm nicht mehr zuordnen. „Fingerabdruckscanner gab es damals noch nicht ausreichend“, sagt Strasser.
In Deutschland konnte Amri insgesamt 14 Alias-Identitäten annehmen, um Sozialleistungen zu erschleichen. Aber schon im Februar 2016 hätten das die Behörden gewusst, so Strasser. Denn Amri hatte in Nordrhein-Westfalen Kontakte zum Kreis um den islamistischen Hassprediger Abu Walaa aus Hildesheim geknüpft. Er wurde von den Sicherheitskräften als „Gefährder“ eingestuft, dem Anschläge zugetraut werden. Gleichzeitig fiel er immer wieder durch Delikte wie Diebstahl oder Drogenhandel auf. „Warum er nicht ins Gefängnis musste oder abgeschoben wurde, warum die einzelnen Verfahren nicht zusammengezogen wurden, das konnte uns im Untersuchungsausschuss niemand schlüssig erklären“, sagt Benjamin Strasser.
Noch immer Rätsel gibt ein anderer Vorfall auf: Als Amri einmal sogar freiwillig ausreisen wollte, wurde er in Friedrichshafen kurz vor der Grenze zur Schweiz von deutschen Polizisten daran gehindert und aus dem Bus geholt. Strasser sagt: „Erst im Nachhinein wurde behauptet, er hätte als IS-Kämpfer nach Syrien ausreisen wollen. Aus heutiger Sicht sieht es aber tatsächlich so aus, als hätte er nach Tunesien zurückkehren wollen.“ Hätte man ihn damals ziehen lassen, er hätte wohl nie wieder einreisen und auch nicht diesen Anschlag begehen können. In der Zusammenarbeit, so zeigen die Berichte des Untersuchungsausschusses, ist zwischen den verschiedenen deutschen Sicherheitsbehörden vieles katastrophal schief gegangen. In Nordrhein-Westfalen, wo Amri sich viel aufhielt, gelang es den Ermittlern, einen V-Mann in seiner Nähe zu platzieren. Man erhoffte sich von dem Spitzel Informationen über Amris Pläne und mögliche Hintermänner.
Als der Tunesier dann nach Berlin reiste, bat die Polizei aus NRW die Kollegen in der Hauptstadt, den Verdächtigen nicht zu kontrollieren, sondern verdeckt zu überwachen, um die Ermittlungen nicht zu gefährden. Strasser berichtet: „Was passierte? Er wurde in Berlin von der Polizei aus dem Bus geholt und sein Handy abgenommen. Natürlich warnte er seine Kontakte in Nordrhein-Westfalen. Die VP01 wurde aus Sicherheitsgründen von Amri abgezogen.“ VP01, das ist der Codename der wichtigsten, verdeckt arbeitenden Quelle der Polizei in Nordrhein-Westfalen. Der Extremismus-Experte ärgert sich über „Beamte, die ihre Einsatzbefehle nicht lasen, Absprachen nicht einhielten“, über „Fachwissen, das in den Behörden ganz unterschiedlich ist“. Das sei aber nicht das Versagen von Einzelnen, sondern im System begründet. „Die föderale Struktur an sich ist gut, aber Kleinstbehörden sind kaum handlungsfähig. Der Terrorismus wird immer internationaler, deshalb brauchen wir weniger Behörden, die mehr Sicherheit schaffen“, fordert Strasser.
Hinterhof-Moschee in Berlin als Terror-Drehscheibe
In Berlin-Moabit, hinter einer abgeschabten roten Holztür in der Perleberger Straße, hatte sich die Fussilet-Moschee zu einem Zentrum der salafistischen Szene in der Hauptstadt entwickelt. Ismet D., der sich als „Emir“ bezeichnete, soll Terrorgruppen in Syrien unterstützt und junge Muslime radikalisiert haben. In einem Kellerraum stemmte wohl auch Anis Amri Gewichte, um sich zu stählen für den „Heiligen Krieg gegen Ungläubige“. Gleich gegenüber befindet sich ein Polizeirevier, das eine Überwachungskamera auf den Eingang des Islamistentreffs gerichtet hatte. Doch deren Bilder wurden offenbar kaum ausgewertet. Unweit der inzwischen geschlossenen Moschee befindet sich der geschäftige Berliner Westhafen. Dort erschoss Amri an jenem verhängnisvollen 19. Dezember 2016 den polnischen Fahrer eines mit 25 Tonnen Baustahl beladenen Lastwagens.
Gegen 20 Uhr lenkte der 23-Jährige den Sattelzug in die fröhliche Menschenmenge auf dem hell erleuchteten Weihnachtsmarkt auf dem Breitscheidplatz. Vieles spricht für Benjamin Strasser dafür, „dass Anis Amri diesen Anschlag nicht allein begangen hat, sondern Unterstützer hatte“. Bekannt ist, dass Amri während des Anschlags praktisch „live“ per Handy von einem Islamisten aus Libyen heraus bestärkt und angeleitet wurde. Neue Recherchen des Rundfunks Berlin Brandenburg haben nun ergeben, dass Amri offenbar einen direkten Auftraggeber hatte. Es soll sich um den etwa 45-jährigen Ali Hazim Aziz, Kampfname Abu Bara’a al-Iraqi handeln, einen hohen, irakisch-stämmigen Funktionär der Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS). Hinweise auf den möglichen Hintermann habe es schon früh gegeben, doch sie seien im Laufe der Ermittlungen „versandet“. Damit nicht genug, sagt Strasser: „Wir haben zudem Hinweise einer Quelle des Verfassungsschutzes Mecklenburg-Vorpommern, dass Amri aus dem Bereich der Organisierten Kriminalität geholfen wurde. Diese Hinweise wurden nie an die Polizei weitergegeben.“
Halfen Clan-Mitglieder Anis Amri?
Mitglieder eines arabischstämmigen Clans könnten Amri vor der Tat unterstützt und ihm danach bei der Flucht aus Berlin geholfen haben, heißt es. Drei Tage nach dem Anschlag wurde Amri von italienischen Polizisten nördlich von Mailand gestellt und erschossen. Doch die offizielle These vom „einsamen Wolf“ Amri, der seine furchtbare Tat ganz allein begangen hat, sie bröckelt. Benjamin Strasser sagt: „Ich erwarte, dass alle Sicherheitsbehörden – auch der Generalbundesanwalt – allen Hinweisen und Spuren auf mögliche Helfer, Mitwisser, Unterstützer nachgehen und vor allem auch ausermitteln. Wenn das noch nicht geschehen ist, ist es höchste Zeit dafür.“
Aufklärung, das fordern auch Angehörige der Opfer ebenso wie viele der mindestens 67 teils schwer verletzten Menschen und zahlreiche traumatisierte Helfer. Der Anschlag beschäftigt sie jeden Tag aufs Neue. Einer der eingravierten Namen an der Gedenkstätte auf dem heute von hohen Stahlgittern geschützten Weihnachtsmarkt ist noch ganz frisch. Ein Mann, der den Anschlag zunächst schwer verletzt überlebte und seither pflegebedürftig war, ist erst vor wenigen Wochen gestorben.