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Berlin: Brennpunkt Neukölln: Wie Berlin nach der Silvesternacht über Integration diskutiert

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Brennpunkt Neukölln: Wie Berlin nach der Silvesternacht über Integration diskutiert

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    Nach den Ausschreitungen in der Silvesternacht befragten LKA-Beamte in der sogenannten High-Deck-Siedlung an der Sonnenallee die Anwohner.
    Nach den Ausschreitungen in der Silvesternacht befragten LKA-Beamte in der sogenannten High-Deck-Siedlung an der Sonnenallee die Anwohner. Foto: Jens Kalaene, dpa

    Deutschlands bekanntester Brennpunkt sieht so aus: ein länglicher, vielleicht fünf Quadratmeter großer Fleck aus Ruß, geschmolzenem Plastik, Glassplittern und Matsch. Wie eine Wunde hat er sich auf dem Asphalt der Sonnenallee ausgebreitet, die an dieser Stelle von einem brückenartigen Gebäude-Riegel überspannt wird. In der Silvesternacht ist hier in Berlin ein Reisebus in Flammen aufgegangen. Junge Randalierer hatten zuerst die Scheiben eingeschlagen und dann Feuerwerkskörper ins Innere geworfen.

    Das Wrack ist abtransportiert, die Bilder davon und der Fleck sind geblieben. Sie sind zum Symbol geworden. Für die Ausschreitungen, die den Jahreswechsel in mehreren deutschen Städten überschatteten. Für die zunehmende Gewalt gegen Polizisten und Rettungskräfte. Für gescheiterte Integration, weil viele der Tatverdächtigen eine Zuwanderungsgeschichte haben. Nun sind sie auch noch Thema im Berliner Wahlkampf. In wenigen Wochen ist Wahltag.

    Ausgebrannte Fahrzeuge an der Sonnenallee zeugten von der Eskalation.
    Ausgebrannte Fahrzeuge an der Sonnenallee zeugten von der Eskalation. Foto: Paul Zinken, dpa

    Und immer geht es um den Ort, in dem sich der Rußfleck befindet, den Berliner Stadtteil Neukölln. Schon 2004 befand der damalige SPD-Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowsky, dass dort der Beweis liege, dass „multikulti“ gescheitert sei. Vergangenes Jahr warnte ein CDU-Politiker, der im Bezirk Stadtrat für Jugend und Soziales ist, in einem Buch mit dem Titel „Brennpunkt Deutschland“,

    Der Berliner CDU-Politiker Falko Liecke sagt: „Die Architektur ist Teil des Problems“

    Falko Liecke heißt dieser Politiker. Mit seinem fein getrimmten silbergrauen Bart, dem farblich passenden Wollmantel und der rechteckigen Professorenbrille bleibt er nicht unbemerkt, als er an einem frostigen Nachmittag durch die „High-Deck-Siedlung“ geht. Nahe der Stelle, an der der Bus brannte, starren ihm zwei pubertierende Jungen in Jogginghosen feindselig nach. Den 49-Jährigen wundert nicht, dass gerade diese Wohnanlage zum Epizentrum der Krawalle wurde. Dabei stehen hier gar nicht die monströsen Hochhäuser, die andere Neuköllner Brennpunkte prägen. Zum Beispiel die aus der Heroin-Saga um „Christiane F.“ bekannte Gropiusstadt, in der 38.000 Menschen leben. In der High-Deck-Siedlung sind es rund 6000. Liecke sagt dennoch: „Die Architektur ist Teil des Problems.“

    Fünf oder sechs Etagen haben die Blocks mit den Waschbetonfassaden, die durch breite Fußgängerbrücken, die namensgebenden „High Decks“, verbunden sind. Keller, Fahrwege, Parkplätze und Müllcontainer befinden sich auf der Ebene darunter, in die kaum Licht dringt. „In den 1970er-Jahren galt das im sozialen Wohnungsbau als zukunftsweisend“, erklärt der Stadtrat. Bald aber habe sich gezeigt, dass das bauliche Konzept Angsträume schaffe und Verwahrlosung fördere. Die vielen Nischen und vor Blicken geschützten Bereiche seien zu „Brutstätten von Drogenkriminalität und Bandengewalt“ geworden.

    Eine Mitschuld an den Zuständen gibt er der im Stadtstaat Berlin regierenden Koalition aus SPD, Grünen und Linkspartei

    In den Ritzen zwischen dem Beton sprießen erste Frühlingsblümchen – zwischen Hülsen von Schreckschussmunition. Liecke geht an einem Fenster vorbei, in dem eine palästinensische Flagge hängt. Bei den Tätern aus der Silvesternacht, sagt er, handle es sich um „überwiegend arabische Jugendliche, die mit ihren Angriffen zeigen wollten, dass sie diesen Staat ablehnen“. Der Hintergrund vieler Beteiligter sei ein Faktor von mehreren. Doch darüber müsse gesprochen werden.

    Eine Mitschuld an den Zuständen gibt er der im Stadtstaat Berlin regierenden Koalition aus SPD, Grünen und Linkspartei. Eine Reihe verurteilter Krimineller aus der Siedlung, „ganz harte Jungs“, sei während der Corona-Pandemie aus Berliner Haftanstalten entlassen worden, aus Infektionsschutzgründen. Da müsse sich doch niemand wundern, dass die Zahl der Straftaten hier gestiegen sei!

    Seine Schuldzuweisungen platzen mitten hinein in den kurzen und ohnehin heftigen Hauptstadt-Wahlkampf. Weil der erste Wahldurchgang, der gleichzeitig mit der letzten Bundestagswahl stattfand, von Chaos und schlechter Organisation geprägt war, müssen die Berlinerinnen und Berliner am 12. Februar ihr Abgeordnetenhaus neu bestimmen. Der politische Streit wird mit scharfen Worten geführt, der Zoff um Neukölln ganz besonders. Weil die CDU im Parlament nach den Vornamen der Tatverdächtigen fragte, werfen ihr die Grünen Populismus vor. Deren aus Augsburg stammende Spitzenkandidatin Bettina Jarasch schließt eine Zusammenarbeit mit dem Christdemokraten Kai Wegner faktisch aus. Die rechnerisch mögliche schwarz-grüne Koalition erscheint kaum mehr denkbar.

    CDU-Stadtrat Falko Liecke am „Brennpunkt“.
    CDU-Stadtrat Falko Liecke am „Brennpunkt“. Foto: Bernhard Junginger

    Franziska Giffey, die Regierende Bürgermeisterin von der SPD, muss dennoch um ihr Amt bangen. Nach der Silvesternacht hatte sie ein bundesweites Böllerverbot ins Spiel gebracht, dann berief sie eilig einen Gipfel gegen Jugendgewalt ein. Im Anschluss an das Treffen von rund zwei Dutzend Vertretern von Polizei, Justiz und Jugendhilfe im Roten Rathaus kündigte sie eine „gemeinsame Kraftanstrengung für mehr Respekt in der Stadt“ an. Ein „mehrstelliger Millionenbetrag“ solle etwa für intensivere Sozialarbeit bereitgestellt werden. Neben einer „ausgestreckten Hand“ bedürfe es gleichwohl eines „klaren Stopp-Signals“. Strafen müssten auf dem Fuß folgen. Genau so, sagen ihre Kritiker, habe Giffey schon gesprochen, als sie selbst noch Bezirksbürgermeisterin von Neukölln war. Geschehen sei nichts.

    Berlins Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey wettert über eine CDU-Wahlkampfveranstaltung

    Am Freitag schließlich wetterte Giffey auf Twitter über eine Bürgerveranstaltung, zu der CDU-Chef Friedrich Merz und Spitzenkandidat Kai Wegner ausgerechnet nach Neukölln geladen hatten. Dies sei „populistisch und durchschaubar“. Die CDU spalte und hetze und mache „Positionen der Rechten salonfähig“. Sie sei sich sicher, dass die Neuköllner den Besuch der Herren Merz und Wegner „entsprechend einordnen werden“.

    Franziska Giffey (SPD), Regierende Bürgermeisterin von Berlin, muss um ihr Amt bangen.
    Franziska Giffey (SPD), Regierende Bürgermeisterin von Berlin, muss um ihr Amt bangen. Foto: Wolfgang Kumm, dpa (Archivbild)

    Neukölln: Auf fast fünf Kilometern Länge durchzieht die Sonnenallee den Bezirk mit seinen fast 330.000 Menschen aus 155 Nationen. Die High-Deck-Siedlung liegt am südlichen Ende. Am nördlichen, rund um Hermannplatz und Rathaus, schlägt das Herz der größten arabischen Gemeinschaft Deutschlands. Es riecht nach Wasserpfeifen-Rauch und Falafel – diese libanesischen Kichererbsenbällchen werden an jeder Ecke verkauft. Viele der orientalischen Brautmodengeschäfte, Juweliere oder Fladenbrot-Bäckereien sind nach Städten wie Damaskus, Beirut oder Kairo benannt. Dazwischen türkische Gemüseläden, vietnamesische Garküchen, westafrikanische Friseursalons.

    Der Kellner eines gut besuchten Lokals, das für seine Köfte, „türkische Buletten“, bekannt ist, regt sich noch immer mächtig über die Gewalttäter der Silvesternacht auf: „Idioten, die das ganze Viertel in Verruf bringen“, sagt er. Viele Wirte und Händler in der Gegend dächten wie er, vor allem ihre Scheiben seien ja zu Bruch gegangen. Manche forderten für die Randalierer Strafen, die teils nicht druckreif seien. Sozialstunden seien jedenfalls nicht genug. Nur eines begreife er nicht, sagt der Kellner: „Wenn Klimaschützer, die Anja oder Jonas heißen, im Braunkohledorf Lützerath die Polizei angreifen, warum möchte denen niemand ihren Pass wegnehmen?“ Wer verstehen wolle, wie die Jugend hier ticke, rät der Kellner, solle sich nicht die Videos aus der Silvesternacht ansehen, in denen Halbwüchsige mit ihren Taten prahlen. Nein, der solle lieber zum „Kalifen von Neukölln“ gehen.

    Der "Kalif von Neukölln" sagt: „Viele dieser jungen Männer haben noch nie in ihrem Leben Anerkennung erfahren"

    Der Kalif von Neukölln, ein hagerer 69-Jähriger, heißt Kazim Erdogan und empfängt in hellen Altbauräumen im Norden Neuköllns mit dampfendem Tee und Süßgebäck. Er wisse natürlich, dass sein Spitzname für Irritationen sorge, sagt er mit einem Lächeln. Es gab mal einen berüchtigten Islamisten, der „Kalif von Köln“ genannt wurde. Erdogan dagegen kämpft seit Jahrzehnten gegen jede Form von Extremismus und hat dafür das Bundesverdienstkreuz erhalten.

    Kazim Erdogan hat 2012 das Bundesverdienstkreuz erhalten. Das Foto zeigt ihn bei der Verleihung neben dem damaligen Bundespräsidenten Joachim Gauck.
    Kazim Erdogan hat 2012 das Bundesverdienstkreuz erhalten. Das Foto zeigt ihn bei der Verleihung neben dem damaligen Bundespräsidenten Joachim Gauck. Foto: Wolfgang Kumm, dpa

    Über die Tatverdächtigen der Silvesternacht sagt er: „Viele dieser jungen Männer haben noch nie in ihrem Leben Anerkennung erfahren. Weder zu Hause noch in der Schule oder im Sport.“ Durch die Exzesse hätten sie auf sich aufmerksam machen wollen. Letztlich seien sie auf „einer schwierigen Suche nach der eigenen Identität“.

    Erdogan weiß, wovon er redet. Als junger, mittelloser Mann war er einst aus Anatolien nach Berlin gekommen, ohne ein Wort Deutsch zu sprechen. Er schleppte Waschmaschinen und arbeitete am Fließband, um sich ein Studium zu finanzieren, wurde Lehrer, Psychologe und Sozialarbeiter, wurde eine anerkannte Instanz in Fragen der Integration. Auch im Ruhestand kümmert er sich um die Menschen Neuköllns. Seit 2007 leitet er eine Männergruppe für Türkeistämmige, deutschlandweit die erste, mit denen er über Themen wie Gewalt in Familien und die Gleichberechtigung der Geschlechter spricht. Er ist überzeugt davon, dass seine Arbeit mehrere Morde im Namen einer vermeintlichen „Ehre“ verhindert hat.

    Auch bei Giffeys Gipfel war Erdogan dabei. Er hoffe, dass sich nun wirklich etwas bewege, sagt er. Denn auch er sieht Fehler bei der Politik, auch er erzählt von sinnvollen Projekten, deren Finanzierung irgendwann einfach eingestellt wurde, von mangelnder Zusammenarbeit von Schulen, Sozialbehörden und Polizei. Für die Gewalt im Kiez macht er ein „teuflisches Viereck“ verantwortlich, bestehend aus fundamentalistischen Einstellungen, traditionalistischen Lebensweisen, starken Nationalismen und dem Druck des Umfelds.

    Sein Handy klingelt, ein Freund ist dran. Der sei als junger Habenichts nach Deutschland gekommen. „Heute ist er erfolgreicher Geschäftsmann, der Salate an Handelsketten in ganz Deutschland liefert.“ Er wolle ihn überzeugen, Jugendlichen von seinem Lebensweg zu erzählen. „Was unsere jungen Leute dringend brauchen, sind positive Vorbilder“, sagt der „Kalif“. Leider rede niemand von den Neuköllner Rechtsanwälten, Ärztinnen und Unternehmern, allesamt Kinder von Migranten. „Wer bereit ist, genauer hinzusehen, kann hier auch etwas anderes finden als nur einen Brennpunkt.“

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