Die Frau, die in ihrer Heimat Zehntausende mobilisiert, spricht mit ruhiger Stimme. Was sie zu sagen hat, braucht keine schrillen Töne, braucht keine donnernde Faust, um zu wirken. Ihr Mut ist es, der ihren Worten Nachdruck verleiht. Ihr Anliegen klingt banal, und ist doch in einer Zeit, in der sich die Krisen überlappen, eines der schwierigsten: Swetlana Tichanowskaja möchte, dass die Welt Belarus nicht vergisst. Und so ist sie, die nicht wenige für die wahre Siegerin der Präsidentschaftswahl im vergangenen Jahr halten, zu einer Art Handlungsreisende der Revolution geworden. Sie spricht mit US-Präsident Joe Biden, wird in Brüssel empfangen und weltweit mit Preisen überhäuft.
Am Dienstag besuchte die 38-Jährige mit den feinen Gesichtszügen und dem ernsten Blick den Bayerischen Landtag, traf dort Landtagspräsidentin Ilse Aigner, Ministerpräsident Markus Söder und Mitglieder der bayerischen SPD. „Wir haben sehr, sehr großen Respekt vor dem, was Sie tun“, sagte Florian von Brunn, Chef der Bayern-SPD. Es ist die öffentliche Aufmerksamkeit, mit der die internationale Politik versucht, die belarussische Demokratiebewegung am Leben zu erhalten. Denn im eigenen Land hat Diktatur Alexander Lukaschenko durch seine Gewaltherrschaft viele seiner Gegner längst verstummen lassen.
Protest lässt Alexander Lukaschenko blutig niederschlagen
Lukaschenko ließ sich bei der Präsidentenwahl am 9. August 2020 mit 80,1 Prozent der Stimmen im Amt bestätigen, kaum jemand glaubt an dieses Ergebnis. Damals war er schon mehr als 25 Jahre an der Macht. Nach der Abstimmung gingen Hunderttausende monatelang jedes Wochenende aufs Neue auf die Straße. Der 67-Jährige ließ die Demonstrationen mitunter blutig niederschlagen. Die EU erkennt ihn nicht mehr als Präsidenten an. Lukaschenko selbst behauptet, die Revolution sei vom Westen angezettelt worden. Die Proteste in Belarus sind leiser, weniger sichtbar geworden.
„Die Leute leben in Angst“, berichtet Tichanowskaja. Wer auch immer sich politisch äußert, macht sich verdächtig und muss mit drakonischen Strafen rechnen. „Das Regime versucht, die Zivilgesellschaft im Land zu zerstören“, sagt sie. Organisationen werden verboten, Kritiker und Journalisten inhaftiert. Diejenigen, die den Umsturz herbeisehnen, müssen dies aus dem Untergrund heraus organisieren. Oder, wie Tichanowskaja selbst, aus dem Ausland: Mit ihren beiden Kindern lebt sie im Exil in Litauen, ist geflohen vor den Schergen des Präsidenten, der sie als Staatsfeindin sieht und am liebsten hinter Gittern sehen würde – genau da, wo ihr Ehemann schon ist. Und er ist nicht der einzige: Mehr als 900 politische Gefangene sitzen in den Gefängnissen des Landes. Zehntausende wurden während der Demonstrationen zumindest kurzfristig verhaftet. Andere gaben auf und zogen weg. Allein 2020 ist die Einwohnerzahl von Belarus laut offizieller Statistik um 60.000 auf 9,3 Millionen gesunken – wegen der Corona-Pandemie, aber auch wegen Abwanderung.
Tichanowskaja fordert Neuwahlen
Sich im Westen ein neues Leben aufzubauen, ist für Tichanowskaja keine Option. „Wir müssen den Druck auf das Regime aufrechterhalten“, sagt sie in München. Auch wenn es ihr und den anderen Widerstandskämpferinnen und -kämpfern bis jetzt nicht gelungen ist, den Diktator zu stürzen – er soll sich nicht zu sicher fühlen. „Es gibt nur einen Weg: Neuwahlen“, sagt die Frau mit den feinen Gesichtszügen. Davon freilich will Lukaschenko nichts wissen. Auch, weil nach wie vor Moskau seine schützende Hand über ihn hält. Wladimir Putin hatte zuletzt sogar betont, dass Belarus auch auf militärischen Beistand Russlands setzen könne, wenn die Lage außer Kontrolle geraten sollte. Dass Lukaschenko es schafft, Europa seit Wochen vorzuführen, indem er Flüchtlinge an die polnische Grenze schafft, er bewusst auf Konfrontation geht, gefällt dem Kreml. Inzwischen überziehen sich Belarus und die EU sowie die USA gegenseitig mit Sanktionen. Doch erst die eigene Betroffenheit und die Sorge vor einer neuen Migrationskrise brachte die internationale Politik zum Handel.
Immerhin ein Hoffnungsschimmer für Tichanowskaja und ihre Mitstreiter: Denn die ohnehin am Boden liegende Wirtschaft in Belarus ist leicht verwundbar, eine weitere Verschlechterung des Lebensstandards könnte die Geduld ihrer Landsleute weiter strapazieren – und Lukaschenkos Ende doch noch besiegeln. Um die Arbeiter zu besänftigen, habe die Regierung kurzfristig die Löhne angehoben, erklärt Tichanowskaja, zu groß sei die Angst vor neuen Streiks. „Wir begrüßen, dass die EU konsequent ist“, formuliert sie diplomatisch. Doch es gebe noch zu viele Schlupflöcher, die dringend geschlossen werden müssten. Das Regime müsste politisch und wirtschaftlich isoliert werden. Angst, dass die Menschen in Belarus unter den Sanktionen leiden, hat sie nicht. „Die Sanktionen treffen die Eliten und unterbrechen die Korruptionsbewegungen“, sagt sie. „Die Menschen selbst haben keine Furcht vor neuen Sanktionen, sie haben Furcht vor Gewalt und Gesetzlosigkeit.“ Womöglich, so hofft sie, werde auch Putin sich schon bald von Lukaschenko abwenden – nämlich dann, wenn dessen Unterstützung zu kostspielig werde.
Die Situation der Gefangenen gibt ihr Stärke
Bis dahin werde sie weiterkämpfen. „Es ist schwer, aber wir werden diese Situation bewältigen“, sagt sie. „Man ist übermüdet und gestresst.“ Aber die Situation der Gefangenen motiviere sie weiter: „Das inspiriert mich und gibt mir Stärke.“ Dass sie die brauchen wird, hat sie nicht erst in den vergangenen Monaten gelernt. Denn auch wenn Tichanowskaja ihr Leben dem Ringen für die Demokratie in Belarus gewidmet hat, war es nie ihr Ziel, in die Politik zu gehen. Eigentlich wollte ihr Mann Sergej bei der Präsidentenwahl antreten. Doch der Videoblogger wurde schon vor der Abstimmung vom Regime aus dem Verkehr gezogen. Also rückte Swetlana Tichanowskaja an seiner Stelle nach und wurde von vielen Belarussen regelrecht gefeiert. Aus der Hausfrau wurde die berühmteste Kämpferin des Landes – es klingt wie ein modernes Aschenputtel-Märchen. Nur dass in diesem Fall der Bösewicht längst noch nicht besiegt ist.