Es ist ein eher unangenehmes Gefühl. Machen wir es dennoch. Versuchen wir uns in den Mann hineinzuversetzen, der ein Verkehrsflugzeug unter der ominösen Behauptung, es habe eine Bombendrohung gegeben, kapern lässt, nur um eines 26-jährigen Journalisten habhaft zu werden. Alexander Lukaschenko müsste eigentlich klar gewesen sein, dass die politischen und ökonomischen Kosten für diesen aberwitzigen Coup den Nutzen der Aktion um ein Vielfaches übersteigen würden. Der Präsident von Belarus, der schon seit Jahren als „Letzter Diktator Europas“ geführt wird, hat es trotzdem getan.
Geradezu brennend muss in seinem Inneren der Hass auf den jungen Mann sein, der ihn seit Jahren immer wieder kritisiert. Er musste diesen Roman Protassewitsch, der schon mit 16 Jahren begann, den Dauerherrscher in Minsk aufs Korn zu nehmen, einfach zum Schweigen bringen. Protassewitsch, der bereits auf einer Terroristenliste des belarussischen Geheimdienstes stand, habe sofort gewusst, dass es bei diesem Akt der Luftpiraterie um ihn, um seine Verhaftung ging. Dies berichten Augenzeugen, die am Pfingstsonntag mit dem Flugzeug von Athen in die litauische Hauptstadt Vilnius unterwegs sind.
Protassewitsch weiß, wie er Lukaschenko zur Weißglut bringen kann
Denn auch Protassewitsch hat sich in Lukaschenko hineinversetzt – immer wieder. So gründlich, dass er genau weiß, wie er den 67-jährigen Präsidenten zur Weißglut bringen kann. Spätestens als er den Kampfjet vom Typ MiG 29 sieht, dürfte ihm klar gewesen sein, dass er das Opfer in diesem Schurkenstück sein würde. „Er legte die Hände über den Kopf, als wüsste er, dass etwas Schlimmes passieren würde“, gibt der mitreisende Grieche Nikos Petalis zu Protokoll. Weitere Mitreisende schildern, dass Protassewitsch vor Angst gezittert habe. Ein anderer Passagier erzählt, dass er seiner Begleiterin eine Tasche übergeben habe – vermutlich mit Dokumenten und einem Computer. Doch auch die Studentin wird festgenommen. Videos von Passagieren zeigen, wie an der Parkposition des Flugzeugs Taschen und Tüten verstreut liegen und Spürhunde die Gepäckstücke beschnüffeln. Eine Bombe finden sie nicht.
Tatsächlich endet der Heimflug von Protassewitsch von einem Griechenland-Aufenthalt in einem Albtraum. Kurz vor der Luftgrenze zum EU-Land Litauen, wo Flug FR4978 gegen 13 Uhr in der Hauptstadt Vilnius landen soll, dreht das Ryanair-Flugzeug mit mehr als 100 Passagieren ab. Die Piloten lassen sich zur Landung in der belarussischen Hauptstadt Minsk von der MiG 29 begleiten.
Ein Alarm über eine angeblich an Bord versteckte Bombe der palästinensischen Terrormiliz Hamas habe das Manöver nötig gemacht, berichtet das Staatsfernsehen in Belarus. Die Hamas dementiert dies umgehend. Alexander Lukaschenko selbst habe den Befehl gegeben, die Maschine landen zu lassen, melden belarussische Medien. Was die Staatspropaganda des Machthabers als einen Akt der Rettung der Passagiere bejubelt, dürfte eine akribisch geplante Geheimdienstoperation gewesen sein, um einen zur Fahndung ausgeschriebenen Regimegegner festzunehmen.
Ryanair-Chef Michael O’Leary spricht von "staatlicher Piraterie"
Ryanair-Chef Michael O’Leary spricht von einem „Fall von staatlich unterstützter Entführung, staatlich unterstützter Piraterie“. Er vermutet, dass auch Agenten des belarussischen Geheimdienstes KGB an Bord gewesen sind. Der Vorfall sei „sehr beängstigend“ gewesen, für Personal und Passagiere, die stundenlang von Bewaffneten festgehalten worden seien.
Protassewitsch drohen in Belarus viele Jahre Gefängnis – unter anderem, weil er die Massenproteste gegen Lukaschenko im vergangenen Jahr nach der umstrittenen Präsidentenwahl maßgeblich mit gesteuert haben soll. Er ist Mitbegründer des oppositionellen Portals Nexta, das in Warschau operiert, und Chefredakteur des politischen Telegram-Kanals @belamova, der mehr als 260.000 Abonnenten hat und besonders beißende Kommentare über Lukaschenko verbreitet.
Mitstreiter von Protassewitsch sind voller Sorge über das Schicksal des Journalisten, der seinen Feldzug gegen die Diktatur in seiner Heimat nach der Flucht aus Belarus im Jahr 2019 von Litauen aus weiterführte. Einen Tag nach der erzwungenen Landung meldet – oder wohl besser muss – sich der festgenommene Blogger per Video zu Wort melden. In einem von der Regierung kontrollierten Nachrichtenkanal erklärt der Verhaftete, dass er sich im „Untersuchungsgefängnis Nr. 1“ in Minsk, einer der berüchtigtsten Orte in der Stadt, befände.
Zu Berichten über einen angeblichen Klinikaufenthalt wegen Herzproblemen sagt er: „Ich kann erklären, dass ich keine gesundheitlichen Probleme habe, auch nicht mit dem Herzen und anderen Organen.“ Er sei gesetzeskonform behandelt worden und kooperiere mit den Behörden, um Geständnisse abzulegen. Gesetzeskonform? Nur lieblos überschminkte Hämatome im Gesicht sprechen eine ganz andere Sprache. „Roman hat nie freiwillig gesagt, was er jetzt in die Kamera gesagt hat“, kommentiert ein Sympathisant Protassewitschs auf Telegram.
Despot Lukaschenko verzichtet auf eine freundliche Maske
Doch zurück zu Lukaschenko. Es gibt Despoten, die ihre Macht nonchalant hinter einer freundlichen Maske oder eleganten Gesten verstecken. Diesen Vorwurf kann man Lukaschenko beim besten Willen nicht machen. Mit dem trockenen Statement „Lieber Diktator als schwul“ konterte der heute 65-Jährige einst Kritik des bekennenden homosexuellen FDP-Politikers Guido Westerwelle. Trocken immerhin müssen seine „Untertanen“ keineswegs leben: Der passionierte Eishockeyspieler – eine der Parallelen zu seinem russischen Amtskollegen Wladimir Putin – empfahl Wodka als Wundermittel gegen die Corona-Epidemie.
In seiner Jugend galt Alexander Grigorjewitsch eher als unstet, ja sprunghaft. Er wechselte des Öfteren seinen Job. Von seiner Ehefrau, Galina Rodionowna, von der er schon lange getrennt lebt, ist der Satz überliefert, dass ihr Ehemann es höchstens zwei Jahre bei einer Arbeitsstelle aushalten würde. Regimegegner dürften diese Bemerkung der gelernten Erzieherin, mit der Lukaschenko zwei erwachsene Kinder hat, mit einem bitteren Lächeln quittieren. Denn seinen aktuellen Job, Präsident von Belarus, füllt Lukaschenko bereits seit schier endlosen 27 Jahren aus. Und das mit einer beunruhigenden Beharrlichkeit trotz der andauernden Proteste gegen seine brutale Herrschaft.
Seine Zeit beim KGB war prägend
Immerhin kann Lukaschenko eine klassische Autokraten-Ausbildung vorweisen. Damit ist weniger gemeint, dass sich der Sohn eines Textilarbeiters in Sowjetzeiten zum Lehrer für Geschichte und Agrarökonomie ausbilden ließ. Prägender dürfte seine Tätigkeit als Funktionär des Jugendwerkes Komsomol und vor allem als Instrukteur des sowjetischen KGB gewesen sein.
Eine Erfahrung, auf die Lukaschenko systematisch aufbaute. Allein der Umstand, dass der Geheimdienst Weißrusslands auch heute noch KGB heißt, zeugt von der Ehrfurcht, die der Präsident für die Kaderschmiede hegt. Ausdruck einer fatalen Kontinuität zu den Zeiten, als Weißrussland noch eine Sowjetrepublik war, ist, dass politische Gegner aus nichtigen Anlässen in den Kerkern des Regimes verschwinden. Im persönlichen Umgang, so konstatieren Politiker, die ihn getroffen haben, gibt sich Lukaschenko gerne burschikos-kumpelhaft. Oppositionelle und Kritiker seiner Herrschaft bekommen allerdings seine dunkle, rachsüchtige Seite zu spüren. Es gibt immer wieder Berichte über die systematische Folter von verhafteten Demonstranten und Regimegegnern. Kritiker verschwinden spurlos – und das seit vielen Jahren. Hinzu kommen Wahlfälschungen in großem Stil.
Die starke Präsenz von Frauen bei den Protesten gegen seine Herrschaft brachte den Präsidenten zunächst spürbar aus dem Tritt. Doch zuletzt folgte er wieder einer einfachen Strategie: größtmögliche Einschüchterung und Repression. Die berüchtigte Sonderpolizei Omon fiel mit wahren Prügelorgien gegen Demonstranten in den Straßen von Minsk auf. Der Druck im Inneren des Landes ist derart gewachsen, dass die bekanntesten Gesichter des Widerstandes – wie Maria Kolesnikowa – im Gefängnis sitzen oder – wie Swetlana Tichanowskaja – ins Ausland geflohen sind.
Allerdings zeigt das Beispiel Protassewitsch, dass es auch fernab der Heimat keine hundertprozentige Sicherheit für Gegner des Präsidenten gibt. Der britische Außenminister Dominic Raab hält es für gut möglich, dass Russland in die Aktion verwickelt war, auch wenn es darüber noch keine Klarheit gebe. „Es ist schwer zu glauben, dass so etwas stattgefunden haben könnte ohne zumindest die Duldung der Behörden in Moskau“, sagte Raab am Montag im Parlament.
Lukaschenkos Gegner solchen sich nie sicher fühlen
Lukaschenko dürfte sich diebisch über die spektakuläre Verhaftung gefreut haben. Das Signal, das damit ausgesendet werden soll, ist klar: Seht her, ich bin noch immer stark, so stark, dass ich meine Feinde jederzeit zur Strecke bringen kann. Natürlich kann man das Ganze auch völlig anders deuten – als Zeichen dafür, dass der Despot seine Widersacher durchaus fürchtet. Gleichzeitig bleibt völlig unklar, auf welcher Basis Belarus aus der Krise herauskommen will. Moskau wird kaum gewillt sein, den maroden Staat mit seinen 9,5 Millionen Einwohnern auf Dauer zu alimentieren.
Belarus befindet sich mit seiner Planwirtschaft in einer selbst verschuldeten Dauerwirtschaftskrise. In besseren Tagen konnte sich der Mann mit den schütteren Haaren durchaus einer gewissen Popularität sicher sein. Seine direkte Art kam bei Teilen der ländlichen Bevölkerung gut an. Auch wurde ihm angerechnet, dass es ihm mit der ihm eigenen Bauernschläue gelungen ist, sich den Machtansprüchen des großen Bruders Russland ein Stück weit zu entziehen. Heute allerdings, da sind sich die Beobachter weitgehend einig, würde Lukaschenko eine freie, demokratische Wahl wohl klar verlieren.
Der Einfluss von Putin ist deutlich gewachsen
Die prekäre Situation im eigenen Land hat den Präsidenten weit enger an Wladimir Putin gebunden, als ihm lieb sein dürfte. Moskau registrierte sehr wohl, dass Lukaschenko vor dem Aufkommen der Protestbewegung stets bemüht war, seine Eigenständigkeit zu verteidigen. Diese Option hat er nun allerdings kaum noch. Ohne Wladimir Putins Unterstützung wäre der Machtwechsel in Minsk wohl längst schon Realität. So ist der russische Präsident die einzige Instanz, die Lukaschenko zur Räson bringen könnte. Doch dass Putin seinem früheren Geheimdienstkollegen öffentlich in die Parade fahren wird, ist alles andere als wahrscheinlich.
Jetzt kommt hinzu, dass die USA und die Europäische Union ihren Kurs gegen Lukaschenko und seinen Machtapparat weiter verschärfen werden. Neue Sanktionen dürften die ökonomische Erstarrung in Belarus weiter verschlimmern und die Unzufriedenheit in der Bevölkerung befeuern.
Lukaschenko wird nicht alle Jets entführen können, in denen er Regimekritiker vermutet.
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