Das Wort vom Krisengipfel drängte sich auf. Immerhin reiste Alexander Lukaschenko am Montag mit dem Gepäck wochenlanger Massenproteste gegen seine Dauerherrschaft zu Wladimir Putin nach Sotschi. Tausende Festnahmen, viele Verletzte, zuletzt sogar Warnschüsse: Der Begriff Belarus-Krise schien also gesetzt. Nicht jedoch für Putin und Lukaschenko. Beide betonten am Rande eines stundenlangen Vier-Augen-Gesprächs, alles sei unter Kontrolle. „Ich bin überzeugt, dass Sie Ihre Arbeit auf dem gleichen hohen Niveau fortsetzen werden wie in der Vergangenheit“, sagte Putin zu Lukaschenko und gratulierte ihm noch einmal zu seinem Sieg bei der Präsidentenwahl im August.
In den Ohren vieler Menschen in Belarus musste das wie Hohn klingen. Schließlich gehen sie seit der Wahl teils zu Hunderttausenden auf die Straßen, um landesweit gegen Fälschungen und Betrug bei der Abstimmung zu protestieren. Sie ertragen seit Wochen die Prügelattacken der Sonderpolizei Omon, Misshandlungen und die Vertreibung oder Inhaftierung der wichtigsten Oppositionellen. Putin aber, von dem sich die Demokratiebewegung in Belarus ein Zeichen des Entgegenkommens erhofft hatte, unterstützte den „rechtmäßigen Präsidenten“ am Montag mit Worten und Taten. Der Kremlchef versprach Lukaschenko einen zusätzlichen Kredit in Höhe von 1,5 Milliarden US-Dollar.
Das Geld soll dem Regime helfen, die Wirtschaftskrise zu überstehen
Das Geld soll dem Regime in Minsk helfen, die coronabedingte Wirtschaftskrise zu überstehen, die sich durch die Proteste und eine Streikwelle verschärft hat. Zugleich bekräftigte Putin auch seine sicherheitspolitische Unterstützung. Beide Staaten würden ihre militärische Kooperation ausbauen. Bereits am Sonntag war eine russische Fallschirmjäger-Division in Belarus eingetroffen. Die Soldaten nehmen an einem zwölftägigen Manöver teil. Niemand in Minsk oder Moskau wollte aber ausschließen, dass sie länger bleiben. „Belarus ist unser wichtigster militärischer Verbündeter“, erklärte Putin am Montag und warnte einmal mehr vor einer Einmischung von außen. Belarus müsse sein Probleme selbst lösen. Er unterstütze deshalb Lukaschenkos Pläne für eine Verfassungsreform.
Besser hätte es in Sotschi für den „letzten Diktator Europas“, wie seine Kritiker Lukaschenko nennen, kaum laufen können. Sichtlich entspannt stellte er klar, dass das Leben in Belarus „seinen normalen Gang“ gehe. Man lasse die Leute gewähren, die ihre Meinung sagen wollten. Es gebe allerdings eine „rote Linie“, die nicht überschritten werden dürfe. Konkreter wurde Lukaschenko nicht, so wie auch Putin nicht genauer sagte, welche „Fortschritte“ er sich bei der Integration zwischen Russland und Belarus wünscht.
Eine „brüderliche Übernahme“ durch Moskau lehnte Lukaschenko früher ab
Zuletzt hatte Putin das Angebot einer „brüderlichen Übernahme“ von Belarus durch Russland im vergangenen Dezember auf den Tisch gelegt. Das war am zwanzigsten Jahrestag des Unionsvertrags zwischen den ehemaligen Sowjetrepubliken, in dem 1999 die Schaffung eines gemeinsamen Staates festgeschrieben worden war. Doch Lukaschenko pochte unverdrossen auf Eigenständigkeit. Ist es damit nun vorbei? Alarmiert zeigte sich am Montag die belarussische Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja. Lukaschenko sei kein legitimier Präsident mehr, betonte sie im litauischen Exil: „Deshalb ist alles, was in Sotschi verabredet wird, ungesetzlich.“
Die Berliner Belarus-Expertin Astrid Sahm erwartet allerdings keine Annexion. „Russland wird die formale Souveränität von Belarus beibehalten“, prophezeit sie. Den Versuch einer „Heimholung“ wie bei der Annexion der Krim 2014 werde es nicht geben. Sahm konnte sich durch den Auftritt der beiden Präsidenten in Sotschi auch in ihrer Auffassung bestätigt sehen, dass Putin einen schnellen Rückzug Lukaschenkos vermeiden will. „Sollte sich die Lage in Belarus beruhigen, ist langfristig ein Machtwechsel denkbar.“ Unter dem Druck der Proteste werde Lukaschenko keinesfalls abtreten. „Das wäre eine Botschaft an Oppositionsbewegungen, die auch für den Kreml nicht akzeptabel wäre.“
In Russland ist Putins Popularität schwer angekratzt
Für diese Sicht spricht auch die innerrussische Entwicklung. Die Corona-Pandemie und die dadurch verschärfte Wirtschaftskrise haben Putins Popularität geschadet. Im August erklärten in einer Umfrage des unabhängigen Lewada-Instituts nur noch 40 Prozent der Menschen in Russland, den Präsidenten bei einer Wahl im Amt bestätigen zu wollen. Die grundsätzliche Unterstützung für Putin erreichte schon im Frühjahr ein Allzeittief.
Am Sonntag fuhr die Kremlpartei „Einiges Russland" zwar bei den Regionalwahlen viele Siege ein. Aber in Sibirien gelangen der Opposition auch Achtungserfolge, die vor allem auf die konsequente Arbeit des kürzlich vergifteten Putin-Gegners Alexei Nawalny zurückzuführen sind. So verlor „Einiges Russland" die Mehrheit im Rat von Nowosibirsk, der drittgrößten Stadt im Land. Und auch in Tomsk, wo Nawalny direkt vor dem Anschlag auf sein Leben Wahlkampf gemacht hatte, sind die Kritiker des Kremls deutlich gestärkt.
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