Es müssen für Markus Söder quälende Fragen sein. Ist er der letzte seiner Art? Ist er der letzte CSU-Vorsitzende und Ministerpräsident, der noch für sich in Anspruch nehmen konnte, dass er alleine Bayern politisch repräsentiert? Geht mit ihm eine Ära zu Ende, eine viele Jahrzehnte anhaltende Erfolgsgeschichte einer Partei, die in den Demokratien Europas, vielleicht sogar der Welt ihresgleichen sucht?
Von außen ist ihm kein Zweifel anzusehen. Brust raus, Rücken durchgedrückt, im Ton gewohnt selbstbewusst. So steht er in Bierzelten, so macht er Wahlkampf. Das ist der Söder, so wie die Welt ihn sehen soll. Doch die SMS, die Söder seien Getreuen schon mal in den frühen Morgenstunden schickt, zeigen einen anderen Mann – einen, der Zweifel hat. Einst hing ein Plakat mit dem Konterfei von Franz Josef Strauß in Söders Kinderzimmer. Steht ausgerechnet jetzt dessen Erbe auf dem Spiel?
Der CSU wurde nie jemand gefährlich
Der drohende Niedergang der Volkspartei CSU wurde schon oft an die Wand gemalt. Entschieden freilich ist da noch nichts. Söder wird auch diese Landtagswahl gewinnen. Die CSU wird auch nach dem Wahltag am 8. Oktober wieder die dominierende Kraft in der Bayerischen Staatsregierung sein. Davon ist nach allen Umfragen auszugehen.
Abwegig sind diese Fragen dennoch nicht. Es gibt eine ganze Reihe von Indizien dafür, dass die CSU drauf und dran ist, an einer Aufgabe zu scheitern, die ihr politischer Übervater Franz Josef Strauß 1977 in der Parteizeitung Bayernkurier so beschrieben hat: „Es treten immer wieder dämonische Existenzen auf in einem Land, in einer Gesellschaft, die dann ganze Flächenbrände auslösen, wenn beim Bürger eine Grundstimmung dafür vorhanden ist. Diese Grundstimmung zu verhindern, muss eine unserer obersten Aufgaben in der geistigen Arbeit, in der politischen Planung und der praktischen Durchsetzung sein.“
Mit widerstreitenden Grundstimmungen in der Gesellschaft hatte es die CSU schon öfter zu tun, nachdem sie im Jahr 1966 ihren rechtskonservativen Gegnern von der Bayernpartei endgültig den Garaus gemacht hatte. Da gab es linke Studenten in den späten 60er und frühen 70er Jahren. Später gab es Atomkraftgegner und die Friedensbewegung. Doch bis zum Jahr 2008 konnten SPD, FDP und – seit 1986 – auch die Grünen der CSU im Landtag die absolute Mehrheit nie streitig machen.
Von links drohte der CSU nie wirklich Gefahr. Bayern war immer eine konservativ-bürgerliche Bastion. Rechts von der CSU aber durfte es, wie Strauß es formuliert hatte, „keine demokratisch legitimierte Partei“ geben. Nur einmal war es knapp. Bei den Wahlen im Oktober 1990 scheiterten die scharf rechtsgerichteten Republikaner mit 4,9 Prozent nur um Haaresbreite am Einzug ins Parlament, ehe sie danach wieder in die Bedeutungslosigkeit versanken. Die Dämonen waren gebannt.
Landtagswahl in Bayern: Ein Koalitionspartner, jetzt rechts der CSU?
Eine ernsthafte Konkurrenz von rechts gab es für die CSU auch 2008 noch nicht, als mit dem Einzug der Freien Wähler die absolute Mehrheit im Landtag erstmals wieder verloren ging. Niemand kam auf die Idee, diesen bunt zusammengewürfelten Haufen als „rechts von der CSU“ einzuordnen. Sie galten, wie der damalige CSU-Chef Horst Seehofer es ausdrückte, als „Fleisch von unserem Fleisch“. Seehofer entschied sich, um Hubert Aiwanger & Co. nicht noch stärker zu machen, für eine Koalition mit der FDP. Die Liberalen regierten artig mit und flogen 2013 wieder aus dem Landtag. Seehofer konnte die absolute Mehrheit zurückerobern.
Aus heutiger Sicht war das möglicherweise ein letztes Aufbäumen. 2018 war es – dann schon unter Ministerpräsident Söder – mit der Herrlichkeit wieder vorbei. Die CSU stürzte mit 37,2 Prozent auf ein historisches Tief. Die rechtsradikale AfD holte aus dem Stand 10,2 Prozent. Und Söder traf eine pragmatische, aber folgenreiche Entscheidung. Er machte die Freien Wähler zu seinem Koalitionspartner. Das machstrategische Kalkül war offensichtlich: Weil die Freien in der Bundespolitik keine Rolle spielten, konnte er sie zu einer Art Neben-CSU erklären und zumindest den Schein aufrecht erhalten, dass der Slogan „Bayern – CSU“ weiter gilt.
Das klappte phasenweise ganz gut. In der Corona-Krise profilierte sich Söder als tatkräftiger Krisenmanager, während Aiwanger als quengelnder Impfskeptiker auffiel. Im Rennen um die Kanzlerkandidatur der Union musste Söder 2021 eine herbe Niederlage einstecken. Dazwischen lag noch ein heftiger Flirt mit den Grünen, der in Teilen der CSU für einige Irritationen sorgte.
CSU und Freie Wähler mit klarem Kurs gegen Berliner Ampel
Doch spätestens Anfang dieses Jahres hatte sich Söder eine plausible Strategie zurechtgelegt. Er wollte mit den Freien Wählern im Schlepptau der stabil regierende Gegenentwurf zum „Ampel-Gehampel“ in Berlin sein. Er setzte darauf, dass SPD, Grüne und FDP in Berlin in den Augen der Öffentlichkeit scheitern und die CSU mit der von ihr geführten „Bayern-Koalition“ in umso hellerem Licht erstrahlt. Um das zu untermauern und gleichzeitig jeden Verdacht zu zerstreuen, dass er vielleicht doch mit den Grünen regieren wollen würde, traf Söder eine folgenreiche Entscheidung: Er legte sich öffentlich darauf fest, die Koalition mit den Freien Wählern nach der Wahl fortzusetzen. Er tat das vielleicht auch mit der heimlichen Hoffnung, dass es im besten Fall doch wieder zur absoluten Mehrheit reichen könnte.
Es gefiel schon damals nicht allen in der CSU, sich so eindeutig an Aiwanger zu binden. Damit, so raunten Söders parteiinterne Kritiker, liefere man sich völlig einem einzigen, noch dazu einem unberechenbaren Partner aus. Außerdem sei nicht zu erkennen, dass die CSU alleine deshalb Boden gut mache, weil man sich in der Ampel in Berlin nach Kräften streitet. Und nur mit einem „Weiter so“, ganz ohne neue Zukunftsprojekte in den Wahlkampf zu ziehen, werde möglicherweise auch nicht reichen. Doch Söders Kritiker beugten sich – mit der Faust in der Tasche – dem Diktat ihres Chefs.
Was dann geschah, konnte allerdings niemand vorhersehen. Welche „dämonischen Existenzen“ in der Gesellschaft aktuell am Werk sind, musste Söder erkennen, als er im Juni bei der Anti-Heizungsgesetz-Demo in Erding ausgepfiffen und der ungehemmt polternde Aiwanger neben ihm lautstark gefeiert wurde. Söder stemmte sich auf der Bühne tapfer gegen die anti-demokratischen Stimmen. Der Blick auf das Publikum aber, wo sich Wutbürger und Querdenker, Aiwanger- und AfD-Anhänger mischten, verhieß nichts Gutes. Das Verhältnis zwischen Söder und Aiwanger war nie besonders gut, bestenfalls mal entspannt. Seit Erding ist es erkennbar belastet. Doch der Wahltermin rückte da schon immer näher und für Söder gab es kein Zurück mehr.
Markus Söder konnte Hubert Aiwanger nicht entlassen
Und es kam noch schlimmer. In der Affäre um ein hetzerisches Flugblatt aus seiner Schulzeit in Niederbayern gelang es Aiwanger, sich als Opfer einer Schmutzkampagne zu stilisieren und noch mehr Sympathisanten und Unterstützerinnen hinter sich zu sammeln. Aiwangers Claqueure bei den Freien Wählern bejubelten prompt eine Solidarisierungswelle. Und Söder hatte in der Frage, ob er ihn als Minister entlassen soll, nicht wirklich eine Wahl.
Immerhin konnte er Aiwanger dazu verpflichten, 25 Fragen zu dem Flugblatt und seiner Vergangenheit schriftlich zu beantworten und einer Veröffentlichung der Antworten zuzustimmen. Die zweifelhaften Erinnerungslücken des Parteichefs der Freien Wähler sind damit für alle Wählerinnen und Wähler dokumentiert.
Entlassen aber konnte er Aiwanger nicht. Es konnte nur noch um Schadensbegrenzung gehen. Sogar in den Reihen von SPD, Grünen und FDP gibt es dafür vereinzelt ein gewisses Verständnis, auch wenn im Landtag diese drei Oppositionsfraktionen dafür stimmten, Aiwanger als Wirtschaftsminister vor die Tür zu setzen. Und in der CSU heißt es fast einhellig: „Hätte er ihn entlassen, hätte Aiwanger uns das Land angezündet.“
In der CSU sieht man Hubert Aiwanger als Gefahr
Doch auch jetzt hat es die CSU mit einem Gegner zu tun, der nach Kräften zündelt. Aiwanger macht sich, wie sein Interview mit unserer Redaktion in der vergangenen Woche zeigte, zum Sprecher einer angeblich benachteiligten „Landbevölkerung“, die angeblich „herablassend“ behandelt wird. Er baut die Freien Wähler zu einer populistischen Klientelpartei um, die sie nie sein wollten. Klientelparteien funktionieren immer nach dem Motto: „Wir gegen die anderen.“
Die Volkspartei CSU, die für sich in Anspruch nimmt, für alle da zu sein, also auch für Stadt und Land gleichermaßen, muss zur Kenntnis nehmen, dass Politik nach dem Freund-Feind-Schema offenbar funktioniert. Die Freien legen aktuell in den Umfragen zu, die Christsozialen fallen zurück. Das muss bis zum Wahltag in zwei Wochen nicht so bleiben. Aber gruseln kann es einem da als CSU-Vorsitzender schon.
Klare Aussage von Markus Söder auf dem Augsburger Plärrer
Söder will davon nichts wissen. Er gibt sich nach außen ruhig und gelassen. Er zeigt sich von sich überzeugt. Auf dem Plärrer in Augsburg sagte er: „Gerade in diesen unsicheren Zeiten mit Krisen, Verwerfungen, Spannungen und Ärger braucht es irgendwie ein seriöses Kraftzentrum und das bin ich.“ Im Wahlkampf stellt er die Leistungen der CSU in den Vordergrund. Er setzt auf seine persönlichen und die Kompetenzwerte seiner Partei. Über Aiwanger spricht er nicht. Er hofft, dass die jüngsten Umfragen nur eine „Fieberkurve“ abbilden und dass sich das Aiwanger-Fieber wieder legt.
Der Befund der Meinungsforscher allerdings kann ihn nicht optimistisch stimmen. Die Zustimmung zu den Freien Wählern stieg nach der Flugblattaffäre um fünf auf 17 Prozent und auch die AfD konnte um einen Punkt auf jetzt 13 Prozent zulegen. Das heißt: Ein Drittel der Bürgerinnen und Bürger – von der politischen Mitte bis weit nach rechts – fühlt sich von der CSU offenbar nicht mehr vertreten. Alleine das wirft quälende Fragen auf.
Noch gruseliger aber wird es für Bayerns Christsoziale beim Blick in die Niederlande. Dort wurde die rechtspopulistische Bauer-Bürger-Bewegung (BBB) bei den Provinzwahlen auf Anhieb stärkste politische Kraft im Land. Die Partei gilt als Sammelbecken für verärgerte Landwirte und unzufriedene Bürgerinnen und Bürger, die um ihren Wohlstand und ihre gewohnte Art zu leben fürchten. Der „Flächenbrand“, von dem Strauß gesprochen hat, ist dort und in anderen europäischen Ländern längst da. Und nicht wenige Strategen in der CSU befürchten, dass Aiwanger genau so etwas im Sinn hat – nicht nur in Bayern, sondern in ganz Deutschland.
Die langen Leiden des Markus Söder werden, so ist zu vermuten, auch nach der Landtagswahl in Bayern kein Ende nehmen – selbst wenn er noch einmal gewinnt.