Michaela Kaniber kann man wirklich nicht vorwerfen, sie hätte zu wenig getan, um sich bei der Demo am Brandenburger Tor vor, hinter und an die Seite der bayerischen Bauern zu stellen. Gleich zehnmal meldet sich die Landwirtschaftsministerin auf Instagram aus Berlin. In Bildern und Videos solidarisiert sich die CSU-Politikerin mit den wütenden Landwirten, die nicht hinnehmen wollen, dass ihnen die Bundesregierung Zuschüsse zum Diesel und die Befreiung von der Kfz-Steuer für Nutzfahrzeuge streicht. Sie schimpft über die Ampel und verspricht, der Freistaat werde die Bauern nicht im Stich lassen. Doch so verzweifelt sich Kaniber auch abmüht – mit Reichweite und Ruchlosigkeit von Hubert Aiwanger kann sie nicht mithalten.
Offiziell ist Hubert Aiwanger gar nicht für die Landwirte zuständig
Der Freie-Wähler-Chef ist als Wirtschaftsminister offiziell gar nicht zuständig, aber das kümmert ihn wenig. Aiwanger hat sich quasi selbst zum Bauernführer ernannt – rustikal im Umgangston, hemmungslos populistisch in seinen Forderungen. Und in der CSU geht die Angst um, bei der einstigen Stammkundschaft den Anschluss zu verlieren. Denn in diesen Tagen, in denen sich selbst Grüne und FDP an die Landwirte heranschmeißen, stellt sich mehr denn je die Frage, wer denn nun die einzig wahre Bauernpartei ist.
Aiwanger, selbst gelernter Landwirt, hat schon vergangene Woche zum großen Bauernaufstand aufgerufen und sich damit – mal wieder – an die Spitze der Bewegung gesetzt. Als einer der Ersten kreuzt er am Montag vor dem Brandenburger Tor auf, macht Selfies, dreht Videos, redet in Mikrofone. Hier, inmitten der brodelnden Menge, sieht er seine Bühne. Denn ans Rednerpult darf er nicht. Schließlich ist er ja nicht zuständig, auch wenn man das zwischendurch immer wieder vergessen mag. Den Leuten vor Ort ist das egal, Aiwanger ist im Empfinden vieler grantiger Demonstranten die Stimme der Bauern.
Aiwanger unterstellt der Ampel, sie wolle "die Bauernschaft reduzieren"
Wenn er schon nicht ans Rednerpult darf, gibt er Interviews, zum Beispiel dem Online-Portal "Nius". Das Gesicht dieses Kanals ist der frühere Bild-Chefredakteur Julian Reichelt, der die Plattform für Hetze, Polemik und Verschwörungserzählungen nutzt. Und Aiwanger bedient den Bedarf, so viel ist sicher. Er unterstellt der Bundesregierung, sie wolle "die Bauernschaft absichtlich reduzieren, weil die Bauern nicht Rot-Grün wählen". Die Landwirte wolle man "offenbar nicht mehr und meint, künftig käme die ganze Nahrung aus der Ukraine oder woher auch immer", raunt der Mann, der immerhin Bayerns stellvertretender Ministerpräsident ist. An einem Traktor ist ein Galgen befestigt, an dem eine Ampel hängt.
Aiwangers Chef in München hat das sicher kommen sehen, schließlich schlägt sich Markus Söder nicht erst seit gestern mit seinem schwer zu kalkulierendem Vize herum. Trotzdem widersteht er am Montag der Versuchung, selbst nach Berlin zu fahren. Er hat seine Lehren aus der Demo gegen das Heizungsgesetz in Erding gezogen, wo Aiwanger die Massen aufpeitschte – und Söder ausgebuht wurde. In Berlin ist es Cem Özdemir, der den angestachelten Volkszorn abbekommt. Während der grüne Bundeslandwirtschaftsminister oben von den Landwirten niedergebrüllt und als "Volksverräter" beschimpft wird, fordert Aiwanger unten, Özdemir müsse "genauso wie der Rest der Truppe zurücktreten". Söder hält lieber Distanz, er geht einen anderen Weg. Nach Mittelfranken.
Markus Söder will seinem Vize nicht das Feld überlassen
Am Tag vor dem Berliner Bauernaufstand besucht er dort den bayerischen Bauernpräsidenten Günther Felßner auf dessen Hof. Ein Heimspiel für den Franken Söder. Gemeinsam nehmen die beiden ein Video auf. Die Botschaft: Der Landesvater macht den Kampf für die Bauern jetzt zur Chefsache. Söder und die CSU versuchen, sich als seriösen Gegenentwurf zum krawalligen Aiwanger in Szene zu setzen, in Inhalt und Form. Sie wollen ihm im wahrsten Sinne des Wortes nicht das Feld, nicht den Acker überlassen. Doch finden sie damit noch Gehör? Schon lange gärt es in Söder, weil sein Vize den Konflikt zwischen Stadt und Land, zwischen "denen da oben" und den "normalen" Leuten so brachial schürt – mit Erfolg und auf Kosten der CSU. Auf Söders Kosten.
Bei der Landtagswahl im Oktober holten die Freien Wähler 15,8 Prozent der Gesamtstimmen. Unter den Bäuerinnen und Bauern schnitt Aiwangers Partei aber noch viel besser ab. 37 Prozent der Landwirte haben laut einer Analyse der Forschungsgruppe Wahlen ihr Kreuz bei den Freien Wählern gemacht, die damit der CSU auf den Fersen sind, die 52 Prozent der Stimmen von den Bauernhöfen bekam. Zumindest in dieser Klientel ist Aiwangers Behauptung, er halte die AfD in Bayern klein, von den Zahlen gedeckt. Nur sechs Prozent der bayerischen Bauern haben Rechtsaußen gewählt.