Zuletzt wurden Fragen gestellt, die der Ukraine und ihrem Präsidenten Wolodymyr Selenskyj nicht recht sein können: Reicht die Kraft der Truppen des angegriffenen Landes, um dem Aggressor Niederlagen zuzufügen, die von Moskau nicht relativiert werden können? Und vor allem: Wie ausdauernd ist die Unterstützung der westlichen Länder? In dieser Situation sind Solidaritätsbekundungen natürlich willkommen – insbesondere von Politikern, die vor Ort ein Statement setzen. Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock traf am Montag bereits zum vierten Mal in Kiew ein.
Eine Woche vor der UN-Generalversammlung reiste die Grünen-Politikerin mit dem Nachtzug in der ukrainischen Hauptstadt zu einem zunächst geheim gehaltenen Blitzbesuch an. Die Hoffnungen der Gastgeber, dass Baerbock aus diesem Anlass verkünden würde, dass eine positive Entscheidung der Bundesregierung über die Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern bevorstehe, konnte sie jedoch abermals nicht erfüllen. „Uns ist die Situation mehr als bewusst", sagte Baerbock nach einem Gespräch mit ihrem ukrainischen Kollegen Dmytro Kuleba. „Zugleich reicht es eben nicht aus, Dinge nur zu versprechen“, sagte sie. Wie vor der Lieferung des Luftabwehrsystems Iris-T und der anderen deutschen Waffenlieferungen, müssten zunächst „alle Fragen geklärt sein“.
Kiew verspricht sich von Taurus-Marschflugkörpern Treffer weit hinter den russischen Linien
Ausweichende Worte, die Kuleba nicht gefielen. Schließlich erhoffen sich die Ukrainer mit Taurus, noch durchschlagender und punktgenauer Ziele hinter den großen russischen Minenfeldern treffen zu können. „Ich verstehe nicht, warum wir Zeit verschwenden“, sagte Kuleba. Ukrainische Soldaten und Zivilisten seien aufgrund des Zögerns getötet worden. „Es gibt kein einziges objektives Argument, das dagegenspricht“, sagte er ungehalten, um den Deutschen im gleichen Atemzug für bereits gelieferte Waffensysteme zu danken.
Es ist ein offenes Geheimnis, dass es Kanzler Olaf Scholz ist, der auf der Bremse steht. Der Sozialdemokrat fürchtet, dass Taurus-Marschflugkörper auch auf Ziele auf russischem Territorium abgefeuert werden könnten, und Russland dann Vergeltung üben könnte.
Kritik an zögerlichen Waffenlieferungen aus dem Westen
Trotz der jüngsten Meldungen über militärische Teilerfolge der ukrainischen Truppen sowohl im Süden der Ukraine im Gebiet Saporischschja, als auch rund um die von Russland besetzte Stadt Bachmut sind sich auch Militärexperten nicht sicher, ob die Offensive letztlich zu einem Erfolg führen wird: Carlo Masala von der Universität der Bundeswehr in München taxierte die Aussichten, dass es den ukrainischen Truppen bis zum Ende des Jahres gelingen werde, die russischen Abwehrstellungen zu überwinden, in einem Gespräch mit den Zeitungen der Funke-Mediengruppe auf 40 bis 50 Prozent.
Damit teilt Masala die Einschätzung des US-Militärgeheimdienstes Defense Intelligence Agency. „Das hängt allerdings von mehreren Faktoren ab: Wie reagieren die Russen? Haben sie noch genügend Reserven? Werden die Ukrainer die relativ kluge Operationsführung beim Durchbruch durch die ersten beiden Verteidigungslinien fortsetzen? Und: Können sie ihre Verluste minimieren?“, sagte der Militärexperte. Entscheidend sei, dass die ukrainischen Streitkräfte die russischen Verbände in Bewegung halten können. „Wenn ihnen das nicht gelingt, haben die Russen die Möglichkeit, sich wieder einzugraben.“
Auf die Kritik an zögerlichen Waffenlieferungen aus dem Westen angesprochen, gab Masala zu bedenken, dass einige Waffensysteme wie moderne Kampfpanzer schlicht nicht in der von Kiew gewünschten Stückzahl zur Verfügung stünden.
Es geht nicht nur um Waffen, es geht auch um den Faktor Zeit
Doch es geht nicht nur um Waffen, es geht auch um den Faktor Zeit. Schließlich ist der Herbst mit seinen in der Ukraine oft starken Regenfällen nicht mehr allzu fern. Den ukrainischen Streitkräften bleibt für ihre Gegenoffensive nach Einschätzung des US-Generalstabschefs Mark Milley wahrscheinlich noch 30 bis 45 Tage Zeit, bevor das Wetter die Kampfhandlungen erschweren könnte. Dies sei „immer noch eine ordentliche Zeitspanne“, sagte er. Milley billigt den Ukrainern zu, dass es keine Anzeichen dafür gebe, dass ihre „beträchtliche Kampfkraft“ nachlassen würde.
Bei dem Baerbock-Besuch ging es am Montag auch um die Perspektive der Ukraine für einen EU-Beitritt. Ein neuer Fortschrittsbericht der EU-Kommission wird im Oktober erwartet. Baerbock würdigte in diesem Zusammenhang die Justizreform und die Mediengesetzgebung, pochte aber gleichzeitig auf noch größere Anstrengungen bei der Korruptionsbekämpfung: „Bei der Umsetzung des Anti-Oligarchen-Gesetzes und dem Kampf gegen Korruption gilt es noch einen Weg zu gehen.“ (mit dpa)