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Auslandsreportage: Im Schützengraben – Der Kaukasus-Krieg um Berg-Karabach

Auslandsreportage

Im Schützengraben – Der Kaukasus-Krieg um Berg-Karabach

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    Waffenruhe? Das ist in der Region Berg-Karabach ein hohles Wort. Dieser Mann im aserbaidschanischen Ganja muss sehen, wie seine Nachbarschaft von armenischem Artilleriebeschuss zerstört worden ist.
    Waffenruhe? Das ist in der Region Berg-Karabach ein hohles Wort. Dieser Mann im aserbaidschanischen Ganja muss sehen, wie seine Nachbarschaft von armenischem Artilleriebeschuss zerstört worden ist. Foto: ap, dpa

    Die Front ist ruhig. Ein paar Stunden zuvor hatte es noch heftigen Beschuss gegeben. Colonel Gor Iskhanian, der armenische Befehlshaber, sitzt in seinem Kommandobunker und raucht eine Zigarette. Neben ihm steht ein sowjetisches Militärtelefon. Ein Adjutant, der aussieht wie ein Kind, bringt fein säuberlich geschnittene Apfelscheiben. Eine Fruchtfliege umschwirrt den Teller, während der Mann spricht, schell und knapp, wie ein Militär eben. Man sei bereit, sagt er. Man könne die Linie halten. Falten der Müdigkeit durchziehen Iskhanians Gesicht.

    Der mehrstöckige Bunker befindet sich irgendwo da, wo das schroffe Bergland von Karabach wie eine auslaufende Welle in die aserbaidschanische Ebene übergeht. Es ist die Frontlinie in einem brutalen Krieg am Rande Europas. Vordergründig kämpfen Armenien und Aserbaidschan um ein dünn besiedeltes Stück Land, halb so groß wie Hessen. In Wahrheit aber geht es um Identität, Überleben, Großmachtpolitik und die Deutung der Geschichte. „Ich wurde hier geboren“, sagt Colonel Iskhanian und zieht an seiner Zigarette. „Das ist meine Heimat und ich werde sie bis zum Ende verteidigen.“

    Auf den Hügeln von Berg-Karabach stehen Kanonen

    Rund um Iskhanians Bunker sitzen die Soldaten in Schützengräben wie im Ersten Weltkrieg. Auf den Hügelkuppen stehen Kanonen. Und am Himmel surren die Kampfdrohnen der Aserbaidschaner, die leisen, gnadenlosen Tötungsmaschinen des 21. Jahrhunderts. Die blutige Vergangenheit des Krieges trifft auf dessen ebenso brutale Zukunft.

    Die neuen Waffen befeuern einen alten Konflikt. Seit den späten 80er Jahren kämpfen Armenien und Aserbaidschan um Berg-Karabach. Zu Sowjetzeiten wurde das mehrheitlich armenisch besiedelte Gebiet Aserbaidschan zugeschlagen. Nach dem Zusammenbruch der UdSSR erklärten die Karabach-Armenier ihre Unabhängigkeit und sicherten sich diese in einem brutalen Krieg, der 1994 in einen eingefrorenen Konflikt überging.

    Die Wunde des Kaukasus war schlecht verheilt

    Vor drei Wochen nun brach er wieder auf, wie eine schlecht verheilte Wunde. Aserbaidschan, so scheint es, ist entschlossen, die verlorenen Gebiete, die es immer noch für sich beansprucht, mit Gewalt zurückzuholen. Die Gelegenheit dazu ist günstig: Europa ist mit Corona beschäftigt, die USA befinden sich im Wahlkampf. Nun sterben die jungen Wehrpflichtigen auf beiden Seiten zu tausenden im Feuer der Drohnen und Geschütze.

    Doch es ist ein ungleicher Kampf. Denn der reiche Erdgas-Staat Aserbaidschan verfügt über modernste Waffen und wird von der Türkei massiv unterstützt. Die Armenier hingegen sind mehrheitlich auf sich alleine gestellt. Ihr engster Verbündeter, Russland, hält sich zurück, seit ein Volksaufstand vor zwei Jahren die einst Moskau-freundliche Regierung in Jerewan aus dem Amt gespült hat. Deshalb kämpfen die armenischen Soldaten zum Teil mit Maschinengewehren gegen die hochmodernen türkischen und israelischen Kampfdrohnen der Aseris, wie die Aserbaidschaner auch genannt werden.

    Drohnen beherrschen den Krieg in der Region Berg-Karabach

    „Die Drohnen sind ein Problem, sie sind überall“ sagt Colonel Iskhanian und denkt kurz nach. Dann sagt er in die Stille des Bunkers hinein: „1992, im ersten Krieg hatten wir auch die schlechteren Waffen. Trotzdem haben wir es geschafft. So wird es auch diesmal sein. Denn wir wissen, wofür wir kämpfen.“

    Im 200 Kilometer entfernten Jerewan stellt sich Garo Kababjian derweil vor eine Wand mit zwei Flaggen: derjenige Armeniens und von der Republik Arzach. So nennen die Armenier ihren Mini-Staat in Berg-Karabach, der jedoch völkerrechtlich nicht anerkannt wird. Kababjian ist dessen Botschafter im Nahen Osten und jetzt – in Zeiten der Not – auch so etwas wie ein Regierungssprecher. Er sitzt in einem Büro in der Ständigen Vertretung seiner Republik in Jerewan. Selbst Armenien hat den kleinen Bruderstaat, den es mit allen Mitteln beschützt, bisher nicht anerkannt – aus taktischen Gründen. Denn eine Anerkennung hält sich Jerewan als letzten Schritt vor, falls keine andere Lösung gefunden werden kann.

    Botschafter Garo Kababjian vor den Flaggen Armeniens (links) und Arzachs.
    Botschafter Garo Kababjian vor den Flaggen Armeniens (links) und Arzachs. Foto: Daniel Böhm

    Doch Kababjian, der in Beirut eine Karateschule leitet und den deshalb alle Großmeister nennen, glaubt, dass sich die Dinge jetzt ändern könnten: „Der Kosovo wurde doch auch anerkannt, warum sollte es bei uns nicht so sein?“, sagt er. Dass die UN das Gebiet immer noch Aserbaidschan zuschlagen, lässt er nicht gelten. Man habe einst ein Referendum über die Unabhängigkeit abgehalten, es könne doch nicht sein, dass das Selbstbestimmungsrecht der Völker einfach so mit einer UN-Resolution ausgehebelt werde. „Arzach“ sagt er „ist armenisch. Seit über tausend Jahren. Das kann niemand bestreiten.“

    „Wir Armenier sind den Türken ein Dorn im Auge“

    Kababjian sieht den jetzigen Kampf deshalb in einem größeren Zusammenhang. „Dahinter steht die Türkei mit ihren neo-osmanischen Großmachtplänen. Wir Armenier sind den Türken ein Dorn im Auge.“ Ohne Armenien würde das türkische Einflussgebiet von Istanbul bis nach China reichen. „Wir kämpfen hier für den Westen, gegen den Terrorismus. Und ums Überleben, denn uns droht ein zweiter Genozid.“

    Der türkische Massenmord an den Armeniern während des Ersten Weltkriegs hat sich tief ins Bewusstsein eingegraben. Damals wurden schätzungsweise über eine Million Armenier durch Todesmärschen und Massakern umgebracht. Jetzt vermischt sich die Angst vor einem zweiten Massenmord mit trotziger Entschlossenheit: Auf den Werbebildschirmen in den Straßen Jerewans laufen Bilder von kämpfenden Soldaten in Dauerschleife, immer wieder unterbrochen von der Losung: Wir werden siegen. Im Park sammeln Studentinnen Lebensmittel und dicke Jacken für die Armee, die freiwillige Fahrer dann in russischen Lastwagen und privaten Autos hoch in die Berge fahren. Und auf der Puschkin-Straße, wo die Hipster in Kellerbars und Cafés sitzen, hat jeder einen Bruder, Cousin oder Freund, der im Schützengraben liegt. Jerewan könnte eine Stadt irgendwo in Europa sein – mit dem Unterschied, dass all die Grafikdesigner, Architekten und Studenten hier in den Kampf ziehen.

    Anachronistischer Krieg zwischen Armeniern und Aserbaidschan

    Es ist ein anachronistischer, seltsamer Krieg, der – abgesehen von den syrischen Söldnern, die auf der aserbaidschanischen Seite offenbar zum Einsatz kommen – von Wehrpflichtigen und Freiwilligen ausgefochten wird, die in zwei regulären Armeen dienen und sich auf nahezu menschenleerem Terrain brutal bekriegen. Der Weg an die Front führt von Jerewan aus über enge Kurven hinauf in die Berge des Südkaukasus. Vorbei an winzigen verstaubten Dörfern. Irgendwann, nach vielen Stunden Fahrt, erreicht man Stepanakert, die Hauptstadt von Berg-Karabach, wo die „Regierung“ der De-facto-Republik Arzach ihren Sitz hat. Die Stadt wirkt völlig ausgestorben, es gibt Bombenkrater und im Teer der Straßen stecken die Reste aserbaidschanischer Grad-Raketen. In der Lobby des Armenia-Hotels sitzen alte Männer in Tarnanzügen und rauchen dünne Damenzigaretten. Immer wieder heulen die Sirenen, dann gehen alle runter in den Keller, wo die Waschküche ist und warten. In der Ferne hört man das dumpfe Grollen der Bombeneinschläge.

    Stepanakert, das in Friedenszeiten rund 50.000 Einwohner zählt, ist eine Frontstadt. Frauen, Kinder und Alte harren entweder in feuchten Kellern aus oder werden per Bus ins sichere Armenien gebracht. Zurück bleiben die Männer, die fest entschlossen sind, ihr Land bis zum letzten Mann zu verteidigen. So wie Harut. Der 28-Jährige arbeitet eigentlich als Grafikdesigner in Jerewan. Jetzt ist er zurückgekommen, um zu kämpfen. Bis vor ein paar Tagen war er im Krieg, nun sitzt er in der Wohnung seines Schwagers in Stepanakert, auf Fronturlaub. Überall liegen Dosen mit Corned Beef und Säcke mit Brot. Für Harut ist es schon der zweite Krieg. 2016, als der Konflikt für kurze Zeit aufflammte, kämpfte er ebenfalls. Nun hat er sich erneut gemeldet. Viele der jungen Soldaten, die mit Harut dienen, haben jedoch weniger Erfahrung. „Die ersten zwei Tage sind schwer für sie. Danach fangen sie sich aber und kämpfen gut“, sagt er. Vor allem die Drohnen machten den Soldaten zu schaffen, erklärt Harut. „Wir müssen dafür unbedingt eine Lösung finden. Aber ich denke, es gibt einen Plan.“ Was für einen, kann er aber nicht sagen.

    Harut lernte als Kind, mit der Waffe umzugehen

    Harut ist in Stepanakert aufgewachsen. Als Armenier in Karabach lerne man von klein auf, mit einer Waffe umzugehen. Der Mini-Staat mit seinen knapp 150.000 Einwohnern gleicht einem winzigen Sparta: Alle männlichen Bürger müssen zwei Jahre in die Armee und werden im Kriegsfall eingezogen. Fast 30 Jahre geht das nun schon so. Für Aserbaidschan kommt eine Unabhängigkeit Berg-Karabachs oder dessen Anschluss an Armenien nicht in Frage. Die Armenier hingegen wollen unter keinen Umständen vom autoritären Regime in Aserbaidschans Hauptstadt Baku regiert werden. Wie in den 90er Jahren beschuldigen sich die Kriegsparteien gegenseitig, Verbrechen zu begehen und zivile Ziele zu bombardieren. „Der Hass ist groß“ sagt Harut, „das macht es so schwierig, eine Lösung zu finden.“ Inzwischen ziehe die dritte Generation in den Krieg. So könne es nicht weitergehen.

    Doch ein Ende ist nicht in Sicht. Obwohl in der Nacht von Samstag auf Sonntag zum zweiten Mal eine Feuerpause in Kraft treten sollte, gehen die Kämpfe weiter. Vor allem rund um die Kleinstadt Hadrut im Süden Berg-Karabachs wird um jedes Haus und jeden Hügelzug gerungen. Die Straße dorthin ist von der Armee gesperrt, es dringen so gut wie keine Information nach draußen. Dennoch schwirren in Stepanakert Gerüchte herum, die Stadt könnte gefallen sein. Für die Armenier wäre das ein schwerer Rückschlag. Dringen die Aseris weiter vor, dann könnte das zu einer Ausweitung des Konfliktes führen. Denn Russland wird kaum zusehen, wie die Türkei nach Syrien und Libyen nun auch noch im Kaukasus ihren Einfluss ausweitet. Und auch der Iran droht mit hineingezogen zu werden. Teheran pflegt zwar gute Beziehungen mit Armenien, verfügt aber über eine beachtliche aserbaidschanische Minderheit im Land, die dagegen zunehmend auf die Straße geht.

    Die Sonne scheint auf den Friedhof in Armeniens Hauptstadt

    Zurück in Jerewan scheint die Sonne auf den Soldatenfriedhof von Yerablur. Die Instrumente der Marschkapelle glänzen im Licht, schwarz gekleidete Frauen weinen vor den Särgen ihrer Söhne und Ehemänner. Ein alter Militärpolizist setzt sich auf eine Parkbank, um zu rauchen. Er hat Tränen in den Augen. Offiziell hat Armenien über 600 Mann verloren. Vermutlich sind es jedoch noch viel mehr. Für das kleine Land ist das ein unglaublicher Verlust, so als ob in Deutschland 20.000 Männer gefallen wären – in weniger als einem Monat. Fast jede Familie beklagt einen toten Freund oder Verwandten. Als die Särge in die Erde hinabgelassen werden, schießt eine Ehrenkompanie in die Luft. Dahinter steht ein Bagger, um neue Gräber auszuheben. Ein junger Soldat blickt auf das Meer aus Kränzen und Blumen. „Wir werden siegen“, sagt er. „Denn ansonsten sind wir verloren.“

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