Den meisten Deutschen wäre es wahrscheinlich am liebsten, Joachim Gauck wäre noch immer Bundespräsident. Wie wenigen anderen gelingt es dem 83-Jährigen, die Welt zu erklären und immer wieder neue Perspektiven zu eröffnen. Das frühere Staatsoberhaupt füllt damit auch ein Vakuum, das die mit sich selbst beschäftigte Regierung und sein oft blasser Nachfolger erzeugt haben. Im Live-Interview unserer Redaktion am Mittwochabend machte Gauck deutlich, dass es eben keine Selbstverständlichkeit ist, in einer freien Welt zu leben. Und dass es auf jeden Einzelnen ankommt, unsere von innen und außen bedrohte Demokratie zu schützen und zu erhalten. Es gehe darum, die "Außenmauern zu festigen und Risse im Fundament zu reparieren", sagte er.
Gauck zeigte sich trotz allem zuversichtlich, dass Deutschland auch die aktuellen Krisen gut bewältigen wird. Er wundere sich bisweilen über die "Kultur des gemäßigten Nörgelns", die viele Menschen im Land pflegen. Die Verantwortung für die latente Verunsicherung in der Bevölkerung sieht Gauck auch in der politischen Kommunikation. Er erinnerte daran, wie Angela Merkel in der Flüchtlingskrise 2015 mit ihrem "Wir schaffen das!" eigentlich Zuversicht vermitteln wollte, aber das Gegenteil erreichte, weil nicht klar genug geworden sei, wie das alles geschafft werden soll.
Joachim Gauck kritisiert AfD, würde sie aber nicht verbieten
Dass diffuse Ängste rechtsnationalen und radikalen Kräften so großen Zulauf verschaffen, sieht er mit Sorge. "Ich brauche diese Partei nicht, Deutschland wäre schöner ohne die", sagte Gauck über die AfD, sprach sich aber dennoch klar gegen ein Verbot der Partei aus. Er warb vielmehr dafür, wertkonservativen Menschen, die um ihre Traditionen oder ihre Art zu leben fürchten, wieder mehr politische Angebote zu machen und Probleme nicht – aus Angst, populistisch zu klingen – zu verschweigen. "Ich will keine reaktionären Signale", betonte Gauck, doch man dürfe benennen, was schiefläuft, etwa bei Migration und Integration. Dies müsse allerdings "in einer offenen Sprache, ohne Ressentiments, ohne Herabwürdigung anderer geschehen".
Der Altbundespräsident beantwortete im Kleinen Goldenen Saal in Augsburg nicht nur die Fragen von Chefredakteurin Andrea Kümpfbeck und Chefredakteur Peter Müller, sondern auch die Fragen des Publikums. Er erzählte etwa, wie er früh politisiert wurde, als sein Vater grundlos eingesperrt wurde, warum er Pfarrer wurde und wie er sich erklärt, dass manche Menschen in Ostdeutschland heute mit Nostalgie an die DDR zurückdenken, obwohl sie dort nicht in Freiheit leben konnten. Und er erklärt in faszinierender Weise, wie es zur verhängnisvollen Fehleinschätzung des Westens im Umgang mit Wladimir Putin kommen konnte und warum der russische Präsident in Wahrheit mehr Angst vor dem Freiheitswillen des eigenen Volkes hat als vor der Nato.
Auch nach seiner Zeit als Bundespräsident hat er etwas zu sagen
Gauck hatte nach der Wende jene Behörde mit aufgebaut, die sich mit der Aufarbeitung der Stasi-Bespitzelung in der DDR befasste. Von 2012 bis 2017 war er Bundespräsident und hatte dann trotz großen Zuspruchs in der Bevölkerung von sich aus auf eine zweite Amtszeit verzichtet. Doch der einstige DDR-Bürgerrechtler hat noch immer etwas zu sagen. Befreit von den Verpflichtungen des Amtes, mischt er sich als Autor, in Vorträgen und Interviews kritisch in politische Debatten ein. Wie an diesem Abend in unserem Format "Augsburger Allgemeine Live".