Es sind nur noch vier Tage bis Weihnachten, viele Menschen haben ihren letzten Arbeitstag hinter sich, waren Geschenke besorgen und treffen sich am Freitagabend mit Freunden auf dem Weihnachtsmarkt. Für einen Glühwein, um die Stimmung zu genießen, um unbefangen beieinander zu sein. Um kurz nach 19 Uhr endet in Magdeburg alles Fröhliche. Ein Mann rast mit seinem Auto in die Menschen auf den Weihnachtsmarkt am Alten Markt. Mehrere Menschen werden getötet, darunter ein Kleinkind. Mindestens 200 Menschen werden verletzt, 41 davon sehr schwer. Die Zahl der Toten könnte noch steigen.
Was ist in Magdeburg passiert? Was weiß man über den Täter?
Mit einem schwarzen BMW X5, einem Leihwagen mit Münchner Kennzeichen, fährt Taleb A. ungebremst in die Menschenmenge auf dem Alten Markt. Im Internet kursieren Videos, auf denen zu sehen ist, wie Menschen gerammt werden, wie sie zu Boden stürzen. 400 Meter soll das Auto über den Weihnachtsmarkt gerast sein. Offenbar kann der Mann mit dem Auto einfach zwischen Pollern durchfahren, berichtet die Bild-Zeitung. Taleb A., so heißt der Fahrer, wird direkt nach der Tat festgenommen. Nach Angaben von Sachsen-Anhalts Innenministerin Tamara Zieschgang handelt es sich bei dem 50-Jährigen um einen Arzt aus Bernburg, einer Stadt mit 32.000 Einwohnern, die etwa 50 Kilometer von Magdeburg entfernt in Richtung Halle liegt.
Taleb A. stammt aus Saudi-Arabien und ist der Innenministerin zufolge bereits 2006 nach Deutschland gekommen. 2016 soll er als Asylbewerber anerkannt worden sein, inzwischen hat er einen unbefristeten Aufenthaltstitel. A. ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und habe zuletzt mit suchtkranken Straftätern gearbeitet. Seit März 2020 sei er im Maßregelvollzug in Bernburg tätig gewesen, wie eine Sprecherin der Betreibergesellschaft Salus mitteilte. „Seit Ende Oktober 2024 war er urlaubs- und krankheitsbedingt nicht mehr im Dienst.“
Nach Informationen aus Sicherheitskreisen ist der mutmaßliche Täter nicht als Islamist bekannt, das berichten mehrere Medien übereinstimmend. Er selbst bezeichnet sich als Ex-Muslim. Taleb A. wurde noch am Freitagabend verhört. Das Motiv des war möglicherweise Unzufriedenheit mit dem Umgang von Flüchtlingen aus Saudi-Arabien in Deutschland. Das sei der gegenwärtige Stand der Ermittlungen, sagte der Leitende Oberstaatsanwalt Horst Walter Nopens am Samstag.
Islamistischer Hintergrund wohl ausgeschlossen: Was ist das Motiv?
Taleb A. war als Einzeltäter unterwegs, das teilten die Behörden noch am Abend mit. Kurz nach der Tat war davon die Rede, dass es sich „wahrscheinlich um einen Anschlag“ handle, wie etwa Stadtsprecher Michael Reif sagte. Nach Informationen des Spiegel war der 50-Jährige bislang aber nicht als Extremist aufgefallen. Eher im Gegenteil: Den Recherchen zufolge sei A. jahrelang als Aktivist unterwegs gewesen, der vor allem Frauen aus Saudi-Arabien über Fluchtmöglichkeiten aus ihrem Land beriet und eine Internetseite mit Informationen zum deutschen Asylsystem betrieb. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung verweist auf ein 2019 geführtes und veröffentlichtes Interview mit dem Tatverdächtigen. Die Zeitung betont, dass sich die Einstellung A.s in den vergangenen Jahren offensichtlich stark gewandelt hat, das zeigen teils wirre Posts in den Sozialen Medien. Auch Spiegel-Recherchen zeigen dies.
Der 50-Jährige habe auf seinem Account bei der Plattform X mit Elon Musk und der AfD sympathisiert und von einem gemeinsamen Projekt mit der Partei geträumt – einer Akademie für Ex-Muslime. „Wer sonst bekämpft den Islam in Deutschland?“, soll A. gefragt haben. Er soll außerdem Angela Merkels offene Grenzpolitik kritisiert haben, diese sei ein Plan gewesen, „Europa zu islamisieren.“ Und weiter: „Deutschland muss seine Grenzen gegen illegale Migration schützen.“ In einem kürzlich auf einem islamfeindlichen US-Blog erschienenen Videointerview habe der mutmaßliche Täter mehr als 45 Minuten lang krude Thesen geteilt.
Auch sonst wurden seine Beiträge zunehmend wirr. In sozialen Medien und Interviews erhob er Vorwürfe gegen deutsche Behörden. Er hielt ihnen vor, nicht genügend gegen Islamismus zu unternehmen. Nachdem er vor Jahren mit seiner Unterstützung für saudische Frauen, die aus ihrem Heimatland fliehen, an die Öffentlichkeit gegangen war, schrieb er später auf seiner Website in englischer und arabischer Sprache: „Mein Rat: Bittet nicht um Asyl in Deutschland.“ Nun könnte der Umgang mit Geflüchteten aus Saudi-Arabien das Motiv für die Todesfahrt gewesen sein.
Saudi-Arabien soll deutsche Behörden dreimal vor Taleb A. gewarnt haben
Saudi-Arabien hat Deutschland saudischen Sicherheitskreisen zufolge vor Taleb A. gewarnt. Das Königreich habe seine Auslieferung beantragt, darauf habe Deutschland nicht reagiert, hieß es. Dem Spiegel zufolge habe es sogar drei Warnungen an deutsche Sicherheitsbehörden gegeben, deren konkreter Inhalt ist unbekannt. Der Mann stammt demnach aus der Stadt Al-Hofuf im Osten Saudi-Arabiens. Er sei Schiit gewesen. Nur etwa zehn Prozent der Bevölkerung in dem mehrheitlich sunnitischen Land sind schiitisch. Es gibt immer wieder Berichte über Diskriminierungen gegenüber Schiiten im Land.
Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) sagte zu den Warnungen: „Wir können nur gesichert sagen, dass der Täter offensichtlich islamophob war.“ Alles Weitere sei Gegenstand der Ermittlungen. Was es an Warnungen im Vorfeld gegeben habe oder nicht, obliege den Ermittlungsbehörden, betonte die SPD-Politikerin.
Wie der Spiegel berichtet sei im Dezember 2023 eine Anzeige gegen A. eingegangen, weil er auf der Plattform X geschrieben haben soll, dass Deutschland „einen Preis“ bezahlen werde für angebliche Verfolgungen saudi-arabischer Flüchtlinge. Dem Magazin zufolge landete die Anzeige beim Landeskriminalamt Sachsen-Anhalt, allerdings kam man dort zu dem Ergebnis, dass von diesen Aussagen keine konkrete Bedrohung ausgehe.
Am Tag vor der tödlichen Attacke auf den Magdeburger Weihnachtsmarkt hätte A. vor Gericht erscheinen müssen, wie der Spiegel berichtet. Die Amtsanwaltschaft Berlin habe wegen des „Missbrauchs von Notrufen“ ermittelt. Bei den Vorfällen im Februar 2024 sei er schon verwirrt erschienen. Gegen einen Strafbefehl mit Tagessätzen erhob Taleb A. Einspruch – darum hätte es am 19. Dezember vor Gericht in Berlin gehen sollen. Es wäre nicht sein erster Kontakt mit einem deutschen Gericht gewesen, heißt es. Bereits 2013 habe ihn das Amtsgericht Rostock zu einer Strafe von 90 Tagessätzen zu zehn Euro verurteilt. Grund war eine „Störung des öffentlichen Friedens durch Androhung von Straftaten“.
Video soll Festnahme von Taleb A. direkt nach der Tat zeigen
Amateurvideos vom Magdeburger Weihnachtsmarkt sollen die Augenblicke nach der Tat und die Festnahme des Mannes zeigen. In dem Video ist zu sehen, wie ein Polizist seine Waffe auf den Verdächtigen richtet und ihm befiehlt, sich hinzulegen. Er schreit: „Die Hände auf den Rücken!“ und „Bleib liegen!“ Es ist zu erkennen, dass der Verdächtige neben dem schwarzen - sichtbar beschädigten - Auto auf dem Boden liegt. Als schließlich Verstärkung kommt, springen mehrere Polizisten aus dem Einsatzwagen und umkreisen den Mann.
Sorge vor Anschlägen auf Weihnachtsmärkten
Die Todesfahrt in Magdeburg dürfte die Angst vor Anschlägen wieder erhöhen. In Augsburg wurde erst Anfang Dezember ein Terrorverdächtiger festgenommen, der womöglich den Christkindlesmarkt im Visier hatte. Ausländische Geheimdienste hatten den Hinweis auf die Gefahr gegeben. Konkrete Anschlagspläne habe es aber noch nicht gegeben. Dafür sitzt der Schecken aus dem Sommer noch tief: Im August war ein IS-Sympathisant auf einem Stadtfest in Solingen mit einem Messer auf Besucher losgegangen und tötete drei Menschen.
Fast genau acht Jahre vor der Tat in Magdeburg, am 19. Dezember 2016, hatte ein Islamist einen LKW auf den Weihnachtsmarkt am Berliner Breitscheidplatz gelenkt und dabei 13 Personen getötet. Erst am Donnerstag wurde der Toten und vielen Verletzten in Berlin gedacht. Nach dem Anschlag reklamierte damals der sogenannte Islamische Staat die Tat für sich.
Alle aktuellen Entwicklungen zur Tat auf dem Magdeburger Weihnachtsmarkt gibt es im Liveticker:
(mit dpa)
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