Die Zahlen sind dramatisch – und die Konsequenzen auch. Alleine im Gesundheitswesen und in der Pflege waren Ende vergangenen Jahres nach einer Studie der Unternehmensberatung PwC knapp 290.000 Stellen nicht besetzt, im Transportgewerbe fehlen nach Branchenangaben 70.000 Lkw-Fahrer und in der Digitalwirtschaft fast 140.000 Informatiker, Systemadministratoren und ähnliche Spezialisten. Alles in allem, schätzt die Bundesagentur für Arbeit, braucht Deutschland jedes Jahr rund 400.000 Fachkräfte aus dem Ausland, um diese Lücken zu schließen. Weil die Baby-Boomer aus den geburtenstarken Jahrgängen bald in Rente gehen, verliert die deutsche Wirtschaft alleine dadurch bis zum Jahr 2035 rund sieben Millionen Arbeitskräfte.
Deutsche Fachkräfte wandern in Nachbarländer aus: Schweiz ist das beliebteste Ziel
Gleichzeitig verlassen immer mehr Deutsche ihr Heimatland, weil sie sich in anderen Ländern bessere berufliche Perspektiven oder ein besseres Leben versprechen. Seit dem Jahr 2005 bereits wandern nach den Zahlen des Statistischen Bundesamtes mehr Deutsche aus als Deutsche aus dem Ausland zurückkehren – im vergangenen Jahr waren es per saldo mehr als 83.000 Menschen, die dem Standort Deutschland auf diese Weise als Arbeitnehmer und Konsumenten verloren gingen, mehrheitlich Männer, alle zusammen mit durchschnittlich 35 Jahren vergleichsweise jung und hoch qualifiziert. Fast drei Viertel der Auswanderer haben nach einer Studie des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung ein Studium abgeschlossen. 20.000 Deutsche gingen dabei in die Schweiz, 12.000 nach Österreich und 10.000 in die Vereinigten Staaten. Lediglich ein Mal, im Jahr 2016, lag der Abwanderungssaldo mit 135.000 noch höher.
Achim Dercks, der stellvertretende Hauptgeschäftsführer des Deutschen Industrie- und Handelskammertages, sieht das mit einem lachenden und einem weinenden Auge. Dass junge Deutsche für einige Zeit ins Ausland zögen, sei ausdrücklich positiv, betont er gegenüber unserer Redaktion. „Denn das trägt auch dazu bei, dass wir uns mit der Welt stärker vernetzen, was aus Sicht unserer international ausgerichteten Wirtschaft sehr wertvoll ist.“ Angesichts des enormen Fachkräftemangels aber müsse Deutschland nicht nur für Zuwanderer attraktiv sein, sondern auch für die Menschen, die bereits hier leben: „Wir brauchen also eine Willkommenskultur ebenso wie eine Bleibekultur.“ Dafür aber müsse Deutschland insgesamt als Standort attraktiver werden. „Nur so können wir im internationalen Wettbewerb punkten. Die hohe Steuer- und Abgabenlast ist dabei alles andere als ein deutscher Pluspunkt.“ Auch für junge Unternehmer sei das Umfeld nicht ideal, kritisiert Dercks. „Lange Verfahren, viel Bürokratie und Regulierung hindern junge Menschen, ihren Gründer- und Forschergeist in Deutschland auszuleben. Bei uns gibt es eben von der Wiege bis zur Bahre zu viele Formulare.“
3,8 Millionen Deutsche leben heute außerhalb von Deutschland
Im Interview mit unserer Redaktion hatte CDU-Chef Friedrich Merz zuvor ähnlich argumentiert. Zum einen sei Deutschland nicht das Sehnsuchtsland für gut ausgebildete Menschen aus aller Welt, zum anderen seien aber auch für viele Deutsche die Arbeitsbedingungen in anderen Ländern inzwischen attraktiver. „Und da rede ich jetzt nicht über Kanada, Amerika oder Singapur“, sagte Merz, „sondern über Großbritannien, Österreich oder die Schweiz, die deutsche Ärzte, deutsches Pflegepersonal oder deutsche Ingenieure anziehen.“
Nach den Zahlen der OECD, einem Zusammenschluss der 38 führenden Industrienationen, leben heute außerhalb Deutschlands 3,8 Millionen Deutsche. Mit einer Auswanderungsrate von 5,1 Prozent liegt die Bundesrepublik damit auf Platz drei im internationalen Vergleich der Industrieländer. Nur Briten und Polen sind noch williger, ihre Heimat zu verlassen.