Tiefe Falten sind auf der Stirn von Annalena Baerbock zu sehen, als sie sich in Butscha den Ort des Grauens zeigen lässt. Nahe der ukrainischen Hauptstadt Kiew wurden nach dem Abzug der russischen Truppen mehr als 400 Leichen gefunden – teils mit auf dem Rücken gefesselten Händen. Und nun steht die deutsche Außenministerin hier, zündet in der orthodoxen Kirche eine rote Kerze an und will ihre Erschütterung nicht verbergen. „Wir sind es diesen Opfern schuldig, dass wir hier nicht nur gedenken, sondern dass wir die Täter zur Verantwortung bringen und ziehen“, sagt Baerbock an der Seite der ukrainischen Generalstaatsanwältin Iryna Wenediktowa.
Die Bilder von den Leichen auf den Straßen gingen um die Welt
Es ist beinahe idyllisch in Butscha, wo vor wenigen Wochen mutmaßlich russische Täter gewütet haben. An einer Allee in der Nähe des Gotteshauses blühen Kirschbäume. Rasen wird gemäht, Autos sind unterwegs. In der Kirche lässt sich die Ministerin Fotos zeigen, die deutlich machen, was hier vor wenigen Wochen geschehen ist. Die Bilder von den Leichen auf den Straßen gingen um die Welt. Umringt von schwer bewaffneten Sicherheitskräften und eine schwarze Schutzweste über dem hellbraunen Mantel gibt Baerbock dann einen Einblick in ihre Gefühlswelt.
Das tut sie öfters, um den Menschen zu Hause nahezubringen, dass Außenpolitik nichts Abstraktes, Nüchternes ist. Die Kirche, in der gerade sie gewesen sei, stehe ja eigentlich für Hoffnung, Zukunft, sagt sie. Zugleich sei sie nun aber „ein Ort, wo die schlimmsten Verbrechen, die man sich nur vorstellen kann, nicht nur sichtbar geworden sind, sondern passiert sind“. Baerbock wirkt erschüttert. Butscha sei ein Vorort von Kiew, genauso wie Potsdam von Berlin, sagt sie. Die Ministerin und Mutter zweier kleiner Mädchen lebt in Potsdam. Sie fügt an: „Es hätte auch meine Familie, meine Nachbarn sein können. Die Willkür macht fassungslos.“
In der Nacht war Annalena Baerbock unter höchster Geheimhaltung angereist
In der Nacht zum Dienstag war Baerbock gemeinsam mit dem niederländischen Außenminister im Zug nach Kiew gekommen – unter großer Geheimhaltung, um die Sicherheit nicht zu gefährden. Mehrfach war sie schon in der Ukraine, nachdem sie im Dezember Ministerin geworden ist, zuletzt im Februar. Gut zwei Wochen, bevor der russische Präsident Wladimir Putin am 24. Februar den Angriffskrieg gegen die Ukraine begonnen hatte, besuchte Baerbock die damalige Front zwischen ukrainischen Regierungstruppen und den von Russland unterstützten Separatisten in der Ostukraine.
Wolodymyr Selenskyj bedankt sich für die Solidarität Deutschlands
Lange hat es seither mit dem erneuten Besuch eines deutschen Regierungsmitglieds gedauert – viele kritisieren, zu lange. Nun kommt die 41-Jährige als erste Ampel-Vertreterin zum Solidaritätsbesuch. Und nicht Kanzler Olaf Scholz, obwohl Wolodymyr Selenskyj ihn kürzlich eingeladen hatte. Am Nachmittag ist es also Baerbock, die den Präsidenten der Ukraine trifft. Es sei von großem Wert für sein Land, dass sich Deutschland solidarisch zeige mit dem ukrainischen Volk, sagt Selenskyj.
Die Außenministerin informiert ihn darüber, dass in wenigen Tagen mit der Ausbildung ukrainischer Soldaten an der Panzerhaubitze 2000 begonnen werde, die Deutschland gemeinsam mit den Niederlanden an die Ukraine liefern werde. Außerdem gibt sie bekannt, dass die deutsche Botschaft in der Ukraine wieder eröffnet wird, die während der Angriffe auf die Hauptstadt geschlossen worden war. Andreas Stein, Jörg Blank, dpa