Eine Familie vor Olivenbäumen: Tamar Kedem Siman Tov, ihr Mann Yonatan, die beiden sechsjährigen Mädchen, Shahar und Arbel, in weißen Kleidern und der vierjährige Omer, allesamt strahlend. So sind sie auf einem Foto zu sehen, das die 35-jährige Siman Tov zum jüdischen Neujahrsfest vor einem Monat auf Facebook stellte. Frauenrechtlerin und soziale Aktivistin sei sie gewesen, berichten israelische Medien. Bei den anstehenden Kommunalwahlen kandidierte sie für den Vorsitz des Regionalrates. "Danke an all die Menschen, die ich diese Woche getroffen habe und die in mir die Alternative sehen, auf die sie gewartet haben", hatte sie in ihrem letzten Post geschrieben, zwei Tage vor ihrem Tod.
Am Morgen des siebten Oktobers versteckte sich Tamar Kedem Siman Tov zusammen mit den drei Kindern, ihrem Mann und dessen Mutter im Schutzraum ihres Hauses. Es nützte nichts. Männer der Hamas drangen ein und metzelten die gesamte Familie nieder.
Hamas-Terroristen ermordeten ein Viertel der Einwohner auf bestialische Art
Rund Hundert Menschen ermordeten oder entführten die Terroristen an diesem Tag allein im Kibbuz Nir Oz – ein Viertel aller Einwohnerinnen und Einwohner. Aus dem kleinen, Palmen bewachsenen Örtchen, nur 500 Meter von der Grenze zum Gazastreifen entfernt, wurde binnen weniger Stunden ein Schlachtfeld. Fotos zeigen Häuser mit verkohlten Fassaden und eingestürzten Dächern, abgebrannte Autos und schwarze Leichensäcke auf gepflegten Rasenflächen.
Und das sind noch nicht einmal die schlimmsten Bilder aus Nir Oz. Wie in Israel inzwischen von offizieller Seite bestätigt wurde, töteten die Terroristen Männer, Frauen und Kinder auf bestialische Art. Zum Beweis veröffentlichte das israelische Außenministerium Fotos, die von den meisten Medien nur in verpixelter Form übernommen wurden.
Neben Nir Oz haben auch andere Kibbuze nun die bisher bekannten Zahlen der Opfer veröffentlicht. Kfar Azza, bis vor Kurzem ein Kibbuz vom knapp 800 Seelen, meldete 52 Ermordete und 13 Vermisste. Kibbuz Be’eri beklagt mindestens 110 Ermordete, zehn Prozent seiner Einwohner.
Warum die Kibbuze für Israels Gründungsmythos stehen
Am siebten Oktober hat die Hamas auch einen israelischen Gründungsmythos angegriffen. Das Wort "Kibbuz" stammt aus dem Hebräischen. Es heißt so viel wie "Versammlung". Viele Kibbuze sind älter als der Staat. Ihre Gründerväter und Gründermütter, eingewandert aus Mittel- und Osteuropa, waren inspiriert von den Theorien Marx' und Engels' und gebrannt von den Verbrechen der Nazis.
Die Kommunen, die sie im damaligen britischen Mandatsgebiet Palästina errichteten, sollten einen „neuen Juden“ hervorbringen: kräftig, anpackend, pragmatisch, naturverbunden, und vor allem: wehrhaft. Denn schon damals rangen Juden und Araber um die Herrschaft über das Land, und die Kibbuze fungierten als militärische Außenposten. "Die Grenze ist dort, wo der letzte Pflug steht", hieß es.
Innerhalb ihrer Grenzen versuchten die Pioniere, den Traum einer gerechten, klassenlosen Gemeinschaft zu verwirklichen, ohne privaten Besitz und Unterschiede zwischen Mann und Frau. Das Experiment scheiterte, viele Kibbuze verarmten, und die meisten von ihnen gaben im Laufe der Achtziger- und Neunzigerjahre ihre sozialistischen Prinzipien auf. Ein besonderer Sinn für Gemeinschaft blieb jedoch erhalten.
Was das Leben im Kibbuz besonders macht
Viele Kibbuze bieten ihren Mitgliedern eine soziale Absicherung an, die über die staatliche hinausreicht, und haben weiterhin gemeinsame Essräume, obwohl die Mitglieder längst nicht mehr verpflichtet sind, dort zu erscheinen. Und gerade in den kleinen Kibbuze wie Nir Oz herrscht in der Regel eine familiäre Atmosphäre: Man kennt sich, man hilft einander, die Kinder wachsen gemeinsam auf. Das hofften die Menschen in Nir Oz, Be’eri und all den anderen geschändeten Orten jedenfalls bis zum siebten Oktober.
Schon vor der Attacke war das Leben nahe des Gazastreifens keine reine Idylle: Regelmäßig zwangen die Raketenattacken der Hamas und des Islamischen Dschihad, einer kleineren Terrorgruppe, die Menschen zur Flucht in die Schutzräume. Aber daran hatte man sich, wenn auch nicht ohne Bitterkeit, gewöhnt. Die beispiellose Terrorattacke der Hamas jedoch bedeutet für die Kibbuze eine Zäsur.
Die Überlebenden dürften noch viele Jahre, vielleicht ein Leben lang unter dem Trauma leiden. Bis auf Weiteres hat Israels Regierung die Dörfer und Städte im näheren Umkreis des Gazastreifen evakuieren lassen, zur Sicherheit. Überlebende kommen in Hotels unter, die das Wohlfahrtsministerium an verschiedenen Orten des Landes zur Verfügung stellt, oder bei Verwandten. Ob sie eines Tages zurückkommen und auf den Ruinen ihres früheren Lebens ein neues Zuhause erreichten, weiß zu diesem Zeitpunkt wohl niemand.