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Angela Merkel: Feministin wider Willen

Zwei Frauen, die Geschichte schreiben: Angela Merkel ist die erste Bundeskanzlerin Deutschlands, Kamala Harris, die erste Vizepräsidentin der USA.
Foto: Andrew Harnik, dpa
Bundeskanzlerin

Warum Angela Merkel eine Feministin wider Willen ist

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    Kerzengerade läuft sie, als sie von Norbert Lammert aufgerufen wird. Angela Merkel ist erkennbar angespannt, hat mehr Make-up aufgelegt, als man es von ihr kennt, doch ihre Stimme ist fest und klar. Es ist ein historischer Moment, ein Augenblick, der aus einer Politikerin eine Figur für die Geschichtsbücher machen wird, der sie und ihre Kanzlerschaft – völlig unabhängig von allen Erfolgen oder Misserfolgen, die noch kommen sollten – von all ihren Vorgängern abhebt.

    November 2005: Merkel geht als erste Frau im Kanzleramt in die Geschichte ein

    „Das ist ein starkes Signal für viele Frauen – und für manche Männer sicherlich auch“, sagt der damalige Bundestagspräsident, der ihr an diesem Tag im November des Jahres 2005 den Eid abnimmt. Deutschland hatte seine erste Bundeskanzlerin. Pfarrerstochter, Physikerin, Ostdeutsche: Es gibt viele Etiketten, die Merkel seither anhaften. Doch wohl keines ist so wirkmächtig wie das der ersten Frau im Kanzleramt. Ist nicht sie der lebende Beweis dafür, dass es um die Gleichstellung gar nicht so schlecht bestellt ist wie behauptet?

    Als erste Frau überhaupt legt Angela Merkel im November 2005 den Amtseid vor dem damaligen Bundestagspräsidenten Norbert Lammert ab.
    Als erste Frau überhaupt legt Angela Merkel im November 2005 den Amtseid vor dem damaligen Bundestagspräsidenten Norbert Lammert ab. Foto: Peer Grimm, dpa (Archivbild)

    Für viele ist tatsächlich allein ihre Kanzlerschaft Beweis genug für die Erfolge des Feminismus. Und tatsächlich hat sich einiges verändert in den vergangenen 16 Jahren. Das Elterngeld wurde eingeführt, um auch Männer stärker an die Familienarbeit zu binden. Für Dax-Unternehmen gibt es eine Frauenquote. Mit Ursula von der Leyen und Annegret Kramp-Karrenbauer werden gleich zwei Frauen zu Verteidigungsministerinnen ernannt. Merkels engster Führungskreis im Kanzleramt besteht aus Frauen. Selbst der CSU kommt inzwischen das Wort Parität flüssig über die Lippen. Der Zeitgeist, im besten Sinne des Wortes, hat sich verschoben.

    Und doch bleiben da diese gewaltigen Lücken. Als Merkel zur Kanzlerin gewählt wird, sitzen 42 Prozent weibliche Abgeordnete im Parlament, heute sind es 31 Prozent. Frauen verdienen im Schnitt 18 Prozent weniger als Männer. Nur ein Viertel der Väter geht in Elternzeit. Alleinerziehende sind überproportional von Armut bedroht. Hätte diese Kanzlerin mehr machen können, ja: müssen?

    Ihr Frau-Sein wird besonders im Kontrast zu den Macht-Männern deutlich

    Merkel selbst fremdelt erkennbar mit dem Thema. Als sie in einem Interview vor einigen Jahren gefragt wird, ob sie sich selbst als Feministin bezeichnen würde, sagt sie einen dieser typischen merkelschen Schwurbel-Sätze. „Die Geschichte des Feminismus ist eine, da gibt es Gemeinsamkeiten mit mir und auch Unterschiede. Und ich möchte mich auch nicht mit einem Titel schmücken, den ich gar nicht habe“, macht sie klar. Oder eher nicht klar. Geschlechterthemen liegen ihr nicht.

    CDU-Frauen in Spitzenpositionen: Parteichefin Kramp-Karrenbauer, EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und Kanzlerin Merkel. Doch die Zeit der starken Frauen in der Partei könnte bald vorüber sein.
    CDU-Frauen in Spitzenpositionen: Parteichefin Kramp-Karrenbauer, EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und Kanzlerin Merkel. Doch die Zeit der starken Frauen in der Partei könnte bald vorüber sein. Foto: Michael Kappeler, dpa (Archiv)

    Als Feministin erscheint Merkel vor allem in Situationen, die andere prägen – erst im krassen Kontrast zu den selbstverliebten Macht-Männern wird immer wieder sichtbar, wie sehr sich diese Kanzlerin abhebt im Politbetrieb. Merkel und Putin. Merkel und Trump. Merkel und Erdogan. Ob sie nun will oder nicht: Hier wird ihr Frausein überdeutlich. Sogar als ihr möglicher Nachfolger Armin Laschet am vergangenen Wochenende das Flutgebiet in Westdeutschland bereist, wird sichtbar, wie anders Merkel ist. Laschet feixt, bei Merkel käme niemand auf die Idee, dass sie der Show wegen das feste Schuhwerk überstreift und dann hinter den Kameras Sprüche reißt.

    Allein unter mächtigen Männern – auch Barbara Stamm kennt diese Situationen. Für die CSU-Politikerin und ehemalige Landtagspräsidentin ist klar: Merkel ist eine Feministin. Wenn auch eine wider Willen. „Natürlich, sie hat sich nicht immer lautstark für Frauen eingesetzt, aber als Frau war sie automatisch für alle ein Vorbild“, sagt sie. „Sie hat gezeigt: Man kann als Frau Kanzlerin sein, man kann sich als Frau großes Ansehen erwerben. Allein dadurch war sie für uns Frauen ein Vorbild.“ Dabei habe man es ihr wahrlich nicht leicht gemacht.

    Nummer acht: Nach sieben Männern ist Angela Merkel die erste Frau, die ins Kanzleramt einzieht – wie ihr Entdecker Helmut Kohl wird sie 16 Jahre dort bleiben.
    Nummer acht: Nach sieben Männern ist Angela Merkel die erste Frau, die ins Kanzleramt einzieht – wie ihr Entdecker Helmut Kohl wird sie 16 Jahre dort bleiben. Foto: Jens Büttner, dpa (Archivbild)

    Immer wieder erlebt Angela Merkel, wie mühsam der Kampf gegen machohafte Allüren sein kann. Als sie sich im Jahr 1993 dafür einsetzt, dass sexuelle Belästigung unter Strafe gestellt wird, zitiert der Spiegel den damaligen CSU-Entwicklungshilfeminister Carl-Dieter Spranger: „Wissen Sie, Mädel, wenn ich Sie nicht so nett fände, würde ich ja für diesen Stuss gar nicht stimmen.“ Auch bei ihrem ersten Versuch, die Kanzlerkandidatin der Union zu werden, muss sie erkennen, wie hart man sich den Kopf an der gläsernen Decke stoßen kann. „Damals wurde ihr der Weg nicht frei gemacht“, erinnert sich Barbara Stamm. Die Männerbünde in der Union hatten andere Pläne. „Man hat ihr das nicht zugetraut und ihr die Kanzlerkandidatur verwehrt“, sagt Stamm.

    Merkel hat ihre Weiblichkeit selbst nie zum Thema gemacht

    Dass sie in einer stark männlich dominierten Partei doch noch die ganz große Karriere macht, liegt wohl weniger daran, dass sich das Weltbild in der Union gewandelt hat. Es liegt in den Charakterzügen Merkels selbst, die mit stoischer Geduld und Pragmatismus ihren Weg gegangen ist. „Zur Politik gehört auch ein gewisser Machtanspruch – im guten Sinne“, sagt Stamm. Und den habe Angela Merkel stets für sich in Anspruch genommen. „Komischerweise wurde das viel kritischer betrachtet, als das bei einem Mann der Fall gewesen wäre“, sagt Stamm. „Aber ohne diesen Machtanspruch kann man in einer politisch verantwortlichen Position nicht bestehen.“

    Barbara Stamm hat in ihrer langen Zeit in der Landespolitik immer wieder beobachtet, dass Frauen anders behandelt werden als Männer.
    Barbara Stamm hat in ihrer langen Zeit in der Landespolitik immer wieder beobachtet, dass Frauen anders behandelt werden als Männer. Foto: Rolf Poss (Archiv)

    Vielleicht hat es ihr dabei sogar genutzt, dass sie selbst sich nie als Feministin gesehen hat, dass sie ihre Weiblichkeit nie zum Thema gemacht hat. So wie Merkel ihre Arbeit uneitel in den Dienst des Landes gestellt und sich als Mensch zurückgenommen hat, sollte auch ihr Geschlecht keine Rolle spielen. Ganz so, als ob der Feminismus sein Ziel schon erreicht hätte. Um in einem Männerbund aufzugehen, hat sie die Frauenfrage ausgeklammert, vielleicht sogar geopfert. Und doch gibt es da eben auch diese weiche Seite der Angela Merkel, die sich zunächst in der Flüchtlingskrise und jetzt während der Corona-Zeit gezeigt hat. „In der Pandemie-Zeit haben wir eine andere Angela Merkel erlebt“, sagt Barbara Stamm. „Eine, die sich um die Menschen gesorgt hat. Das hätten viele nicht vermutet. Sie hat nicht lockergelassen und hat sich gekümmert, sie hat sich ihre Sorge nicht nehmen lassen, auch wenn das nicht immer gut ankam und sie kritisiert wurde.“

    Merkels Erfolg ist für manche Männer Provokation genug

    Deutschlands bekannteste Feministin, Alice Schwarzer, hat Merkel gar ein eigenes Kapitel in ihrem Buch „Lebenswerk“ gewidmet. Auch wenn sie manchmal enttäuscht gewesen sei, erklärt Schwarzer da, enttäuscht, dass Merkel sich nicht stärker gegen die konservativen Männer aufgelehnt hat, dass sie sich nie hingestellt und sich als Feministin bezeichnet hat – heute habe sie Verständnis. „Es ist schon Provokation genug, dass ,Kohls Mädchen‘ nun Kohls Erbin geworden ist. Nicht nur Friedrich Merz knirscht mit den Zähnen. Also will Merkel jetzt, auf halbem Wege, nicht auch noch die Frau raushängen lassen – so wenig wie den Ossi.“

    Alice Schwarzer, Journalistin, Publizistin und Gründerin sowie Herausgeberin der Frauenzeitschrift "Emma", ist bekennende Merkel-Bewunderin.
    Alice Schwarzer, Journalistin, Publizistin und Gründerin sowie Herausgeberin der Frauenzeitschrift "Emma", ist bekennende Merkel-Bewunderin. Foto: Oliver Berg, dpa (Archivbild)

    So gnädig wie heute war Schwarzers Blick nicht immer. Im Sommer 2003 kürt ihre Zeitschrift Emma Merkel zum „Pascha des Monats“, weil sie sich in der Debatte um den Irakkrieg auf die Seite von George Bush stellt. Doch am Ende beeindruckt ausgerechnet Angela Merkels vermeintlich „unweiblicher“ Stil – weil sie sich den Rollenbildern widersetzt, die sie erfüllen soll.

    Sogar die Grünen loben Angela Merkel

    Und selbst bei den Grünen hat man ein Lob für die Physikerin aus der Uckermark übrig. „Angela Merkel war die erste Frau im Kanzler*innenamt und ist sicher ein Vorbild für Frauen, sich ihren Platz am Tisch zu erkämpfen“, sagt Katharina Schulze, Fraktionsvorsitzende ihrer Partei im Bayerischen Landtag. „Viele fragen sich ja jetzt, ob ein Mann überhaupt Bundeskanzlerin werden kann.“ Merkel habe gezeigt, dass es in der Politik nicht um One-Man-Shows geht, sondern darum, alle Verhandlungspartnerinnen und Verhandlungspartner an einen Tisch zu bekommen und gemeinsam eine Lösung zu finden. „Mit ihrem Abgang endet jetzt natürlich eine Ära – und gleichzeitig öffnet sich viel Raum für Neues“, sagt Schulze. „Darauf freue ich mich!“ Ihre Kritik zielt vor allem auf Fehler beim Klimaschutz ab.

    Angela Merkel: Meilensteile im Leben einer Kanzlerschaft

    Frau Bundeskanzler?

    Der bayerische Politiker-Parodist Wolfgang Krebs beschäftigte sich kürzlich mit der Frage „Kann eigentlich auch ein Mann Bundeskanzlerin werden?“ Da sieht man mal, wie 16 Jahre eine Gesellschaft prägen können. Schließlich ist es zu Beginn der Ära von Angela Merkel genau anders herum. Damals zucken die Deutschen noch unwillkürlich beim Feierabendbier zusammen, wenn eine Meldung in der „Tagesschau“ mit den Worten „Bundeskanzlerin Angela Merkel …“ beginnt. Am 22. November 2005 wird die damals 51-Jährige vereidigt – und tatsächlich fragen sich die Deutschen, wie man die neue Regierungschefin nun ansprechen wird. „Frau Bundeskanzler“? Die Gesellschaft für deutsche Sprache sorgt umgehend für Klarheit und macht „Bundeskanzlerin“ zum Wort des Jahres.

    Wie im Märchen

    Merkels Zeit im neuen Amt beginnt märchenhaft. Im Sommer 2006 berauschen sich die Deutschen an der Fußball-Weltmeisterschaft daheim – und an einer völlig neuen, unverkrampften Art, das eigene Land zu feiern. Die Welt staunt über die schwarz-rot-goldene Lebensfreude des deutschen Sommermärchens, das für die Fußballer zwar kein Happy End hat, aber das Ansehen der Bundes republik dauerhaft verbessert. Mittendrin eine Kanzlerin, die auf der Tribüne etwas unbeholfen, aber dafür höchst ungekünstelt die Arme hochreißt und nach dem Spiel schon mal in der Kabine auftaucht, um sich mit Poldi und Schweini fotografieren zu lassen. Merkel spielt die Fußball-Anhängerin nicht nur für die Kameras, sie interessiert sich tatsächlich dafür. Dass ihr Herz für den FC Bayern München schlägt, hängt sie aber lieber nicht an die große Glocke.

    Alltagsarbeit

    Weniger Euphorie löst eine der ersten großen politischen Entscheidungen ihrer Kanzlerschaft aus. Die Deutschen sollen länger arbeiten. Mit ihrer Entscheidung im Jahr 2007, das Renteneintrittsalter schrittweise auf 67 Jahre anzuheben, will die Große Koalition den Anstieg der Beiträge bremsen. Heute wieder aktuell.

    Angst um die Ersparnisse

    Im Herbst 2008 beginnt für die Bundeskanzlerin ihre erste von vielen Krisen. In den USA bricht ein unheilvolles System aus faulen Krediten in sich zusammen. Die „Subprime-Krise“ treibt Bankriesen wie Lehman Brothers in die Pleite und vernichtet innerhalb weniger Tage Milliardenwerte an den Börsen. Das weltweite Finanzsystem steht am Rande des Abgrundes. Millionen Kleinanleger sind ruiniert, Hochstapler fliegen auf. Und die Deutschen haben Angst um ihre Ersparnisse.

    So entschlossen wie selten in ihrer Kanzlerschaft geht Angela Merkel in die Offensive. Gemeinsam mit Finanzminister Peer Steinbrück tritt sie vor die Kameras und verspricht den Bürgerinnen und Bürgern, der Staat garantiere dafür, dass ihr Geld sicher ist. Ob sie dieses Versprechen bei einem Kollaps des Bankensystems hätte halten können, ist mehr als fraglich. Doch mit ihrem Versprechen verhindern Merkel und Steinbrück, dass die Menschen ihr Geld panikartig von Konten und Sparbüchern holen und eben jenen drohenden Kollaps herbeiführen.

    Die klammen Griechen

    In der Folge des Bankendesasters geraten auch immer wieder Staaten in finanzielle Schieflage. Aus der Finanzkrise entstehen die Schuldenkrise und die Euro-Krise. Die „klammen Griechen“ werden zum Symbol für katastrophale Haushaltspolitik. Lange, bevor der Brexit Europa in Turbulenzen stürzen wird, geht es um den Grexit. Im Streit um einen Austritt Griechenlands aus dem Euro wird die deutsche Kanzlerin zur Hassfigur – Nazi-Vergleiche inklusive. In langen Verhandlungsnächten in Brüssel ringen die Staats- und Regierungschefs um gigantische Rettungsschirme – und die Bedingungen für solche Hilfsgelder. Die Zukunft der noch jungen gemeinsamen Währung steht auf dem Spiel. Auch Deutschland stürzt in eine tiefe Rezession. Mit milliardenschweren Konjunkturpaketen hält die Bundesregierung dagegen. Berühmt wird die sogenannte Abwrackprämie, die den Deutschen den Kauf eines neuen Autos schmackhaft machen soll.

    Wieder Wahl

    2009 gewinnt Angela Merkel das Duell gegen SPD-Herausforderer Frank-Walter Steinmeier. Allerdings kassiert sie das schlechteste Ergebnis aller Zeiten für die Union. Zur zweiten Amtszeit verhilft ihr eine starke FDP, mit deren Chef Guido Westerwelle sie ein freundschaftliches Verhältnis verbindet.

    Der GAU

    Als Naturwissenschaftlerin macht Merkel nüchternen Pragmatismus zum Regierungsprinzip. Wir prüfen alte Antworten und geben neue, heißt ihr Prinzip. Dass diese neuen Antworten oftmals am Markenkern von CDU und CSU kratzen, nimmt sie in Kauf. Wenn ihre Gegner der Kanzlerin politische Beliebigkeit attestieren, beziehen sie sich neben dem Ende der Wehrpflicht oder der „Ehe für alle“ immer auch auf eine Katastrophe, die im März 2011 in Japan stattfindet.

    Obwohl die schwarz-gelbe Regierung gerade erst beschlossen hatte, die deutschen Kernkraftwerke länger laufen zu lassen als geplant, dreht sich der Wind nach dem GAU von Fukushima. Merkel ruft die Energiewende aus und verkündet, schon Ende 2022 soll das letzte deutsche Atomkraftwerk vom Netz gehen. „Die Ereignisse in Japan lehren uns, dass Risiken, die für absolut unwahrscheinlich gehalten wurden, doch nicht vollends unwahrscheinlich sind“, sagt Merkel. Die Energiekonzerne toben und kämpfen am Ende erfolgreich um Milliardenentschädigungen.

    Abhören unter Freunden

    Mit US-Präsident Barack Obama pflegt die Kanzlerin ein fast herzliches, auf jeden Fall vertrauensvolles Verhältnis – das im Sommer 2013 auf eine harte Probe gestellt wird. Der ehemalige Geheimdienstmitarbeiter Edward Snowden enthüllt, wie der amerikanische Auslandsgeheimdienst NSA die eigenen Verbündeten ausspioniert hat. Es gibt Spekulationen, die US-Schnüffler könnten sogar Merkels Handy abgehört haben. Die diplomatischen Beziehungen zwischen Deutschland und den USA stehen vor einer ernsten Belastungsprobe. „Abhören von Freunden, das ist inakzeptabel, das geht gar nicht“, lässt Merkel ihren Sprecher klarstellen.

    Höhepunkt

    Die meisten Deutschen fühlen sich inzwischen recht gut aufgehoben bei ihrer Kanzlerin, die eine Krise nach der anderen so unaufgeregt abarbeitet, dass andere Nationen nur staunen können. Bei der Bundestagswahl 2013 holt die Amtsinhaberin mit 41,5 Prozent der Stimmen ein Ergebnis, das beinahe an alte Bonner Zeiten erinnert und schrammt nur knapp an der absoluten Mehrheit vorbei. Weil die von Merkel schier erdrückte FDP allerdings aus dem Bundestag fliegt, geht ihr der Koalitionspartner verloren. Es kommt zu einer Neuauflage der Großen Koalition, die damals ihren Namen noch verdient hat.

    Weltmeisterin

    Die Karrieren von Angela Merkel und Joachim Löw verlaufen nicht nur in ihrer Dauer parallel. Bundeskanzlerin und Bundestrainer befinden sich auch nahezu zeitgleich auf dem Zenit ihres Schaffens und ihrer Popularität. Im Sommer des Jahres 2014 tummelt sich auf brasilianischen Fußball-Tribünen allerhand Politprominenz – auch Merkel jettet um die Welt, um die Nationalmannschaft live zu sehen. Heute gäbe es dafür womöglich einen Shitstorm (nichts Wichtigeres zu tun? Und das alles mit unseren Steuergeldern?), damals jedoch surfen Merkel und Deutschlands Fußballer auf einer Sympathiewelle bis zum Weltmeistertitel. Besser wird es nicht. Die Deutschen entfremden sich in den folgenden Jahren von ihrem Nationalteam – und von ihrer Kanzlerin.

    Wir schaffen das

    Im nächsten Jahr werden sich die Menschen am meisten über einen Satz streiten, der doch eigentlich ganz und gar positiv klingt: „Wir schaffen das.“ Drei Worte, die Zuversicht vermitteln sollen – und Angst provozieren. Drei Worte voller Emotion – aus dem Munde einer Kanzlerin, der Emotionen bislang eher unheimlich erschienen. Merkel will ein Deutschland, das Menschen in Not hilft, das ihnen Schutz bietet. Und sie unterschätzt, was diese Worte auslösen. Wenige Wochen zuvor hatte man in der SPD noch darüber nachgedacht, ob man überhaupt jemanden gegen die unschlagbare Merkel ins Rennen sollte. Nun schlagen der Kanzlerin plötzlich Wut und Abneigung entgegen.

    Die Bilder von hunderttausenden Flüchtlingen, die sich nach Deutschland aufmachen, spalten die Republik und lassen rechts von CDU und CSU eine Partei erstarken, die mit der Stimmung Stimmen macht. Erstmals in ihrer Zeit als CDU-Vorsitzende und Bundeskanzlerin gerät Merkel aus den eigenen Reihen unter Beschuss. Mit CSU-Chef Horst Seehofer wird ausgerechnet der Mann zu ihrem härtesten Rivalen, der vor der Flüchtlingskrise noch davon gesprochen hatte, mit dieser Kanzlerin sei bei der nächsten Bundestagswahl die absolute Mehrheit drin. Beim CSU-Parteitag stellt er Merkel bloß (Stichwort Schulmädchen), er spricht von einer „Herrschaft des Unrechts“ und meint damit die Politik der eigenen Bundesregierung.

    Letzter Sieg

    Merkel hat ihre Politik nie besonders gut erklärt. Solange ihr die Deutschen vertrauten, störte das keinen besonders. Doch nun, da viele sich Sorgen machen, ob das Land so viele Flüchtlinge integrieren kann, wird ihr diese Sprachlosigkeit zum Verhängnis. Die Bundestagswahl 2017 markiert eine Zeitenwende. Die in Teilen rechtsextreme AfD zieht erstmals ins Parlament ein. Die Union stürzt auf den niedrigsten Wert in der Geschichte der Bundesrepublik. Dennoch bleibt sie klar stärkste Kraft. Und zur Wahrheit gehört auch, dass viele Menschen gerade wegen Merkel CDU und CSU gewählt haben.

    Dennoch schmeckt dieser letzte Wahlsieg bitter. Merkel geht schwer angeschlagen in die vierte Amtszeit. Bei Landtagswahlen kassiert die CDU eine Niederlage nach der anderen. „Merkel muss weg“, brüllen nun nicht mehr nur die Wutbürger im Osten. Auch in der eigenen Partei macht sich eine gewisse Merkelmüdigkeit breit. Verpasst die ewige Kanzlerin das, was ihr viele Beobachter zugetraut hatten: einen selbstbestimmten Abgang von der politischen Bühne? Kein Bundeskanzler vor ihr ging freiwillig, alle wurden abgewählt, sahen sich zum Rücktritt gezwungen oder wurden gestürzt. Passiert Merkel das auch?

    Anfang vom Ende

    Ein Jahr nach der Bundestagswahl beginnt der Rückzug auf Raten. Nach einem miesen Ergebnis der CDU bei der Landtagswahl in Hessen 2018 kündigt sie an, beim nächsten Parteitag nicht mehr für das Amt der Parteivorsitzenden zu kandidieren. Außerdem erklärt sie, dass am Ende der Legislaturperiode 2021 auch im Kanzleramt Schluss sein wird. So nachdenklich, so persönlich hat man Merkel selten gesehen. Die Frage, ob eine derart angezählte Regierungschefin wirklich noch so lange im Amt bleiben kann, steht im Raum. Zumal in der zweiten Reihe umgehend der Kampf um das Erbe beginnt. Es wird ein Drama in zwei Akten. Im ersten Anlauf setzt sich Merkels Wunschnachfolgerin Annegret Kramp-Karrenbauer gegen Merkels Erzrivalen Friedrich Merz durch. Doch die Ära AKK wird nicht von langer Dauer sein. Was auch daran liegt, dass sich die neue Parteichefin im Schatten der Kanzlerin nicht entfalten kann. Nach zwei Jahren braucht die CDU schon wieder einen neuen Chef. Diesmal setzt sich Armin Laschet durch, der auch im Kanzleramt in Merkels Fußstapfen treten will.

    Die Pandemie

    Dass die Ära Merkel nicht einfach ihrem Ende entgegen plätschert, wie viele prognostiziert hatten, liegt an einem Virus, das im wahrsten Sinne des Wortes die Welt erobert. Anfang des Jahres 2020 breitet sich eine Pandemie aus, deren Ausmaß alle bisherigen Krisen, die Merkel zu meistern hatte, in den Schatten stellt. Dieses Mal geht es nicht um Geld, es geht um Leben und Tod. Und die Kanzlerin tut das, was oft vergeblich von ihr gefordert worden war, sie übernimmt die Führung. In einer Rede an die Nation stimmt sie das Land auf eine harte Zeit ein – womöglich ohne zu ahnen, wie einschneidend diese Krise wirklich sein wird. „Es ist ernst. Nehmen Sie es auch ernst“, appelliert sie an die Deutschen. „Seit der Deutschen Einheit, nein, seit dem Zweiten Weltkrieg gab es keine Herausforderung an unser Land, bei der es so sehr auf unser gemeinsames solidarisches Handeln ankommt.“

    Das Virus kostet allein in Deutschland mehr als 100.000 Menschen das Leben. Der Alltag kommt zum Stillstand, Geschäfte, Gastronomie, Schulen und Kindergärten schließen. Und in Merkel kommt wieder die Naturwissenschaftlerin durch, die Tabellen und Diagramme studiert, die Risiken abwägt und zur großen Mahnerin wird. Zu Beginn der Pandemie versammeln sich die meisten Deutschen hinter der Kanzlerin, die schon als abgeschrieben galt. Mit ihrer sachlichen Art gibt sie den Bürgerinnen und Bürgern das Gefühl, dass das Land auch diese Herausforderung meistern wird. Während in den USA, Großbritannien oder Brasilien großmäulige Populisten die Gefahren ignorieren, führt Merkel – in unerwarteter Allianz mit Bayerns Ministerpräsidenten Markus Söder – das „Team Vorsicht“ an. Ihre Beliebtheitswerte steigen rasant und manch einer in der Union fragt sich, ob das mit dem Abschied aus dem Kanzleramt nicht doch ein bisschen verfrüht war. Doch je länger die Pandemie dauert, desto dünner werden die Nerven. Und so wird es Merkel kaum bereuen, der Versuchung nicht nachgegeben zu haben, doch noch einmal anzutreten.

    Das Ende

    Am 26. September wählten die Deutschen einen neuen Bundestag. Erstmals hat keiner der Kanzlerkandidaten einen Amtsbonus. Angela Merkel hat es doch geschafft, aus freien Stücken ihre Karriere zu beenden. Ihr Nachfolger ist SPD-Politiker Olaf Scholz. Die Deutschen werden sich wohl erst wieder an die Formulierung „Herr Bundeskanzler“ gewöhnen müssen. (msti)

     Was all das heißt? Dass zumindest ihr Erbe durchwachsen ist. So wie auf den schwarzen US-Präsidenten Barack Obama mit Donald Trump ein Rassist im Weiße Haus folgte, wird auch mit der ersten Kanzlerin die Gleichstellung nicht abgeschlossen sein. Mit der AfD steigt in ihrer Kanzlerschaft eine explizit antifeministische Partei auf. Die Zahl der CDU-Frauen, die nach Angela Merkel in die erste Reihe drängen, ist überschaubar. Und doch hat Merkel ihren Platz in den Geschichtsbüchern sicher. Alice Schwarzer schließt ihr Kapitel über die 67-Jährige so: „Ob Angela Merkel nun will oder nicht: Sie entkommt dem Frausein nicht, weder für ihre Gegner noch für ihre Anhänger – für die Mädchen und Frauen dieser Welt ist sie eine Ikone.“

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