Die nie zugeschraubte Zahnpastatube, das Frühstücksgeschirr, das immer stehenbleibt – oft sind es vermeintlich kleine Dinge, die in Beziehungen das Fass zum Überlaufen bringen. Das gilt im Privaten wie in der Politik. Wenn Partner sich kaum mehr auf gemeinsame Ziele einigen können, ist das schlimm genug. Doch wenn sie sich an die mühsam errungenen Kompromisse anschließend nicht halten und sogar darüber streiten, worauf sie sich überhaupt verständigt haben, wird die Trennungsgefahr akut. Schon seit geraumer Zeit befindet sich die Ampelkoalition in dieser brenzligen Phase. Ein neuer Zank, der zwischen SPD, Grünen und FDP jetzt um die bereits abgehakt geglaubte Einführung der Bezahlkarte für Geflüchtete entbrannt ist, droht die Krise auf die Spitze zu treiben.
Dass Asylbewerber künftig statt Bargeld eine elektronische Geldkarte bekommen sollen, darauf hatten sich der Bund und die 16 Bundesländer im November geeinigt. Doch während SPD und FDP dafür das Asylbewerberleistungsgesetz ändern wollen, beteuern die Grünen, dass dies gar nicht nötig sei. Wie es aus Koalitionskreisen heißt, kann das Vorhaben deshalb nicht wie geplant in dieser Woche im Bundestag verabschiedet werden. Es droht, so befürchten SPD, FDP und die Länder, Rechtsunsicherheit bei der Einführung der Karte und damit eine Klagewelle.
Streit über Bezahlkarte für Geflüchtete: Grüne Retourkutsche an die FDP?
FDP-Vize Wolfgang Kubicki kündigt an, in dem neuen Streit notfalls bis zum Äußersten zu gehen: "Sollten die Grünen diesen minimalinvasiven Eingriff in das Asylbewerberleistungsgesetz tatsächlich torpedieren, stellt das die Fortsetzung der Koalition infrage." FDP-Chef Christian Lindner nannte den Widerstand der Grünen überraschend. "Die Grünen dürfen einen Konsens aller demokratischen Parteien nicht gefährden", sagte er dem Münchner Merkur. Die Bezahlkarte könne dazu beitragen, dass eine erhebliche Zahl an Asylbewerbern ausreisen werde, "weil unser Sozialstaat plötzlich nicht mehr so attraktiv ist".
Und auch bei der SPD ist der Ärger groß. Innenpolitiker Sebastian Hartmann mahnt die Grünen, "an der Umsetzung der gemeinsamen Vereinbarung mitzuwirken, statt zu blockieren". Vieles spricht dafür, dass es sich um eine grüne Retourkutsche handelt, die vor allem die FDP treffen soll. Die Ökopartei hat den liberalen Widerstand gegen ihre Lieblingsvorhaben wie das Heizungsgesetz, die Abschaltung der letzten Atomkraftwerke, die Kindergrundsicherung und aktuell das Demokratiefördergesetz weder vergessen noch verziehen.
Rechtssicherheit bei der Bezahlkarte für Geflüchtete bereits gewährleistet?
Hingegen teilte der Vize-Fraktionschef der Grünen, Andreas Audretsch, mit: "Es war gemeinsame Haltung in der Koalition, dass die Länder die Bezahlkarte rechtssicher einführen können. Verschiedene Länder wie Hamburg oder Bayern tun dies auch bereits. Änderungen sind deshalb nicht nötig und nicht verabredet. Für Chaos, Ablenkungsdebatten und schlechtes Management aus dem Kanzleramt stehen wir nicht zur Verfügung." Tatsächlich hatte Kanzleramtschef Wolfgang Schmidt (SPD) im Oktober einen Brief an Audretsch geschrieben, aus dem hervorgeht, dass "keine gesetzliche Änderung" für die Einführung einer Bezahlkarte notwendig sei.
Im grünen Milieu ist jede Verschärfung der Flüchtlingspolitik umstritten. Über die Karten hieß es, sie würden zu einer Stigmatisierung von Geflüchteten führen. Dagegen ist der Wunsch nach mehr Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung unter den Anhängern von SPD und FDP durchaus verbreitet. Beide Parteien haben in erheblichem Maß Wählerstimmen an die rechtspopulistische AfD verloren.
Umstrittene Wirkung der Geldkarten
Die Geldkarten sollen dazu beitragen, illegale Migration weniger attraktiv zu machen, indem Überweisungen ins Ausland, etwa um Schleuser zu bezahlen, verhindert werden. Denn die Karten, auf die die Geldleistungen monatlich aufgebucht werden, sollen nur in Deutschland gültig sein. Ursprünglich diskutiert worden war auch, dass damit kein Alkohol und keine Tabakwaren gekauft werden dürfen, diese Einschränkung wurde dann aber verworfen. Daran, dass die Maßnahme die Asylbewerberzahlen senkt, zweifeln Migrationsforscher: Menschen aus Krisengebieten ließen sich dadurch nicht von einer Flucht abhalten, so der Tenor. Allerdings erwarten Experten und Praktiker aus den Kommunen immerhin, dass ein Karten-System den Verwaltungsaufwand senken könne.
Boris Rhein (CDU), Hessens Regierungschef, rief Olaf Scholz dazu auf, für Klarheit zu sorgen. Der Bundeskanzler von der SPD müsse jetzt "ein Machtwort sprechen für einen realpolitischen Kurs der Ampel bei der Migration", forderte der derzeitige Sprecher der Länder.
Das zunehmend zerrüttete Bild, das die Regierungskoalition abgibt, ist indes auch für CDU und CSU kein Grund zur Freude. Denn mit der pragmatischen Einigung auf die Bezahlkarte hatten Bund und Länder eben doch ihre Handlungsfähigkeit in der Flüchtlingspolitik bewiesen, die ihnen die AfD abspricht.