Die Angst vor einem tödlichen atomaren Wettrüsten, vor ausgelöschten Städten mobilisierte Anfang der 1980er Jahre die Massen. Mädchen und Jungen formierten sich zu riesigen Peace-Zeichen auf den Schulhöfen, Hunderttausende gingen gegen den Nato-Doppelbeschluss auf die Straße. Die Ost-West-Konfrontation endete einige Jahre später mit dem Zerfall der Sowjetunion und des Warschauer Pakts – ohne einen atomaren Schlagabtausch. Doch jetzt kehrt die Furcht vor der nuklearen Bedrohung wieder zurück. Ein schleichender Prozess, der das laufende Jahr 2022 kennzeichnet.
Als am 24. Februar russische Panzer die Grenze zur Ukraine überquerten, drohte der russische Präsident Wladimir Putin der Nato mit Atombomben, falls sich der Westen in den Krieg einmischen würde. Der Kreml-Chef befand sich damals in einer vermeintlich starken Position. Er rechnete mit einem schnellen Sieg seiner Truppen. Auch viele Politiker und Experten glaubten das. Nun hat sich die Szenerie völlig verändert: Eine völlig überschätzte russische Armee war bisher nicht in der Lage, die vom Westen unterstützte Ukraine militärisch zu besiegen – im Gegenteil sie erleidet Niederlage auf Niederlage.
Wladimir Putin sendet Signale der Schwäche
So ist Putins neuerliche Drohung mit der nuklearen Keule ein Eingeständnis der Schwäche. Gleiches gilt für die Teilmobilmachung, die zu einem Massenexodus wehrfähiger russischer Männer geführt hat. Kaum anders ist die am Freitag in Moskau anstehende offizielle Verkündung der völkerrechtswidrigen Annexion östlicher Regionen der Ukraine zu werten. Wer kann schon sicher sagen, wie ernst die Ankündigung aus Moskau zu nehmen ist, Angriffe nach dem „Anschluss“ der Gebiete mit allen Mitteln – also auch Atomwaffen – abzuwehren, gemeint ist? Ein schwacher Putin könnte ein gefährlicher Putin sein.
„Man muss die Drohung ernst nehmen, auch die USA nehmen sie ernst. Gleichzeitig ist die nukleare Option für Putin und Russland die schlechteste aller Optionen“, sagte der Sicherheits- und Militärexperte der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) im Gespräch mit unserer Redaktion. Christian Mölling ist davon überzeugt, dass Putin seinen Zielen keinen Schritt näherkommen würde, wenn er die nukleare Karte ausspielt. „Im Gegenteil, er wäre mit diesem Tabubruch endgültig isoliert, nicht nur im Westen, sondern auch in China – in Peking hält man ihn längst für einen unkalkulierbaren Risikofaktor.“ Doch auch für Mölling ist unklar, ob Putin den „ungeheuer hohen Preis“, den er und letztlich auch Russland zahlen würde, tatsächlich begreift.
Drei Szenarien scheinen denkbar, bestürzend sind sie alle: Ein begrenzter Einsatz atomarer Gefechtsfeldwaffen – also beispielsweise Artillerie mit nuklearer Munition –, der es den russischen Streitkräften ermöglichen könnte, den Vormarsch der Ukrainer zu stoppen. Allerdings wäre es der russischen Bevölkerung schwer zu vermitteln, dass dadurch auch eigene Soldaten und Zivilisten sterben könnten und Teile der gerade annektierten Gebiete durch taktische Atomwaffen auf Jahrzehnte kontaminiert werden würden.
Militärexperten ziehen auch in Betracht, dass eine Nuklearwaffe über dem Schwarzen Meer oder in großer Höhe über der Ukraine gezündet werden könnte, als „letzte Warnung“ gewissermaßen. Und dann ist da noch das ganz große Horrorszenario: ein Atomangriff auf eine ukrainische Stadt – nach dem Muster des US-Angriffs auf Hiroshima und Nagasaki.
Putin scheint sich nicht mehr um russische Militärdoktrinen zu scheren
„Für die USA wäre schon der Einsatz von nuklearer Artillerie eine Überschreitung einer roten Linie. Auch China hat das so kommuniziert“, sagt Experte Mölling. „Das wäre das erste Mal in der Geschichte, dass ein Staat versucht, Territorialgewinne nuklear abzusichern.“ In seiner Not scheint sich Putin nicht mehr um die seit Jahrzehnten gültigen russischen Militärdoktrinen zu scheren. Sie sehen einen nuklearen Erstschlag nur für den Fall vor, dass zentrale Regierungseinrichtungen angegriffen werden oder gar die Existenz des Landes auf dem Spiel steht. Keine dieser Bedingungen ist erfüllt.
Mölling sieht auch einen psychologischen Effekt, der es Putin erschweren könnte, die nukleare Option innenpolitisch durchzusetzen: „Er ist ja nicht alleine. Da gibt es andere Protagonisten im Machtzentrum – Berater, Politiker, hohe Militärs. Die wissen genau, dass solch ein Angriff für sie, ihre Familien und natürlich Russland katastrophale Folgen hätte. Und die wissen auch, dass ein Atomschlag das sowjetische Reich nicht zurückbringen würde. Warum sollten sie dabei mitmachen. Sie könnten sich gegen den Präsidenten wenden.“
Wie könnte die Reaktion des Westens aussehen?
Kommt es dennoch zu einem Einsatz von atomaren Gefechtsfeldwaffen, wie könnte die Reaktion des Westens aussehen? Der Politikwissenschaftler Frank Sauer von der Bundeswehruniversität München, Experte für Atomwaffen, glaubt und hofft nicht, dass die Nato in diesem Fall nuklear zurückschlagen würden. Er gehe zwar davon aus, dass es Pläne für eine „konventionelle und nukleare Antwort“ gebe, halte aber „eine politische Antwort eindeutig für klüger, sagte Sauer im ZDF. Dies hätte den Vorteil, dass „Russland vollends global isoliert“ wäre.
Mölling ist sich sicher, dass die USA, aber auch China Russland über direkte Kanäle vor einem Nuklearschlag unmissverständlich gewarnt haben. Tatsächlich wird darüber spekuliert, dass die USA für diesen Fall gegenüber Moskau eine konventionelle Attacke auf russische Truppen in der Ukraine angekündigt haben.