Die olivgrüne Kampfkleidung, das unrasierte Kinn. Dazu die knarzige Stimme eines Mannes, der wenig Schlaf findet. Wolodymyr Selenskyj hat seine Rolle als Kriegspräsident längst perfektioniert. Ganz gleich, ob er die Front im Donbass besucht, sich per Video an seine Landsleute wendet oder eine Rede vor dem US-Kongress hält. Stets wirkt der gelernte Schauspieler wie gemacht für die Szene. Sein Auftritt in Washington gilt schon jetzt als historisch, mit dem zentralen Satz: „Wir werden gewinnen, weil wir geeint sind – die Ukraine, Amerika und die gesamte freie Welt.“
Der Westen sieht in Wolodymyr Selenskyj den Fackelträger der Freiheit
Selenskyj drängt sich nicht in den Vordergrund. Er reiht sich ein und zeichnet von der Ukraine das Bild des „Underdogs“, der gegen den übermächtigen Aggressor Russland nicht nur um das eigene Überleben kämpft, sondern mehr noch für die Sache der Freiheit. Für die Werte des Westens. Und die Erzählung verfängt. Die Ukraine sei „Teil von etwas Größerem“, sagt US-Präsident Joe Biden. EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen spricht gar von der „Fackel der Freiheit“, die das ukrainische Volk „stellvertretend für uns alle“ hochhält.
Was bei alldem aus dem Blick gerät, ist die Frage: Wie frei ist diese Ukraine noch? Genauer: Wie frei kann ein Land sein, das einen Verteidigungskampf um seine nackte Existenz führt? Seit bald einem Jahr gilt in der Ukraine das Kriegsrecht. Faktisch kommt das einer Aushebelung der verfassungsmäßig garantierten Grundrechte gleich. Es beginnt mit der Freizügigkeit. So dürfen wehrfähige Männer zwischen 18 und 60 Jahren das Land nicht mehr verlassen – mit Ausnahmen in Härtefällen.
Wahlen sind in der Ukraine momentan sogar verboten
Eingeschränkt sind zudem die Versammlungs- und Redefreiheit, das Recht auf Eigentum, die Unverletzlichkeit der Wohnung, das Brief- und Telefongeheimnis oder das Streikrecht. Wahlen und Referenden abzuhalten, ist sogar verboten. Nicht ohne Grund. Denn wie sollte eine freie und gleiche Abstimmung in einem Land möglich sein, das sich im Krieg befindet, das teilweise besetzt ist und aus dem Millionen Menschen geflohen sind?
Andererseits heißt das aber auch: Dauert die russische Invasion im Jahr 2024 noch an, wird sich Selenskyj nach fünf Jahren an der Staatsspitze nicht der regulären Wiederwahl stellen müssen. Er bliebe dann einfach im Amt. Das gleiche gilt für die Abgeordneten der Obersten Rada, des ukrainischen Parlaments, in dem Selenskyjs Partei die Mehrheit hat. Alles liefe dann weiter wie derzeit: Die Rada verlängert das Kriegsrecht auf Antrag des Präsidenten alle drei Monate. Selenskyj trifft die wesentlichen Entscheidungen per Dekret, in Abstimmung mit dem Nationalen Sicherheitsrat. Dort sind Regierung und Parlamentspräsident vertreten, aber auch der Generalstab und die Geheimdienste.
All das ist in einem Verteidigungskrieg, in dem die Existenz des Staates selbst auf dem Spiel steht, kaum anders möglich. Selbst die liberalsten Politikwissenschaftler und Juristinnen bestreiten nicht, dass im Kriegsfall die Wehrhaftigkeit Vorrang hat vor lieb gewonnenen Freiheitsrechten aus Friedenszeiten.
Experten: Nach dem Krieg müssen alle Wahlen nachgeholt werden
Die ukrainische Staatsrechtlerin Julia Kyrychenko beschreibt die Gratwanderung so: „Russlands Angriffskrieg ist auch ein Angriff auf die staatliche Ordnung der Ukraine. Die Ukraine zu verteidigen, bedeutet daher, die Demokratie zu verteidigen. Dies erfolgt durch Waffengewalt. Aber die Verteidigung muss mit den Mitteln der Verfassung erfolgen.“ Für zentral halten Fachleute, dass die Verfassung selbst während des Kriegsrechts unantastbar ist. Änderungen sind verboten, unabhängig von jeder Parlamentsmehrheit. Zudem müssen alle Wahlen sofort nachgeholt werden, wenn dies wieder möglich sein sollte. Entscheidend ist daher, in welchem Geist die Verantwortlichen während des Kriegsrechts handeln. Und die Zweifel an Selenskyjs demokratischem Bewusstsein wachsen.
So ließ der Präsident zuletzt mehrere Großunternehmen verstaatlichen, darunter Energiekonzerne, aber auch den Turbinenbauer „Motor Sitsch“ und den Lkw-Hersteller „Awtokras“, weil das Militär den Zugriff brauche. Die Begründung klingt eingängig. Allerdings sind die verstaatlichten Konzerne eng mit Oligarchen verbunden, deren wirtschaftliche und politische Macht Selenskyj vor dem Krieg auszuhebeln versuchte. Und das gilt auch für mehrere Parteien, die der Präsident mithilfe des Kriegsrechts als „prorussisch“ verbieten lassen konnte.
Lebhaft in Erinnerung ist zudem die Großrazzia im Kiewer Höhlenkloster im Herbst. Die Mönche waren in den Verdacht geraten, mit Moskau zu kollaborieren. Zu Jahresbeginn wurde das Kloster vorerst geschlossen. Die Regierung wird über die weitere Nutzung entscheiden. In der Kritik steht aber vor allem ein neues Mediengesetz, das Selenskyj kürzlich in Kraft setzte. Es soll angeblich den Einfluss der Oligarchen auf die „vierte Gewalt“ begrenzen und der Annäherung an EU-Standards dienen. Allerdings gibt der neue Rundfunkrat künftig der Regierung zentralen Zugriff auf die Medienunternehmen. Das Gesetz werfe „den Schatten eines Diktators“ auf Selenskyj, kritisiert der ukrainische Journalistenverband.
Schon vor dem Krieg war die Ukraine keine gefestigte Demokratie
All das spielt sich in einem Staat ab, der vor dem Krieg keineswegs als gefestigte Demokratie galt. Im renommierten Freiheitsindex der US-Organisation „Freedom House“ galt die Ukraine 2021 als „teilweise freies, hybrides Übergangsregime“. Hin zur Demokratie. Aber auch ein Zurück bleibt möglich.
Derzeit sind sich die meisten Fachleute im Westen zwar einig, dass Selenskyj den schmalen Grat zwischen Wehrhaftigkeit und Freiheit im Krieg nicht verlassen hat. Aber die Absturzgefahr wird nicht kleiner, je länger der Krieg dauert.