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Analyse: Wie der Machtkampf in Russland eskalierte

Analyse

Wie der Machtkampf in Russland eskalierte

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    Jewgeni Prigoschin, Chef der Söldnergruppe Wagner, hat die Waffen gegen die eigene Seite gerichtet und redet bereits von einem „neuen Präsidenten“.
    Jewgeni Prigoschin, Chef der Söldnergruppe Wagner, hat die Waffen gegen die eigene Seite gerichtet und redet bereits von einem „neuen Präsidenten“. Foto: Prigozhin Press Service/AP (Archivbild)

    Es sind surreale Bilder aus Rostow am Don im Süden Russlands. Panzer stehen mitten im Zentrum: Fahrzeuge der regulären russischen Armee direkt gegenüber der Wagen, die den Söldnern der berüchtigten Gruppe Wagner gehören. Der als „Putins Koch“ geltende Unternehmer Jewgeni Prigoschin sitzt derweil bei Tee und Kaffee mit dem Vize-Verteidigungsminister und dem Vize-Generalstabschef und fordert die Herausgabe des russischen Verteidigungsministers Sergej Schojgu, gegen den er seit Monat verbal massiv vorgeht. 

    Die „Schande“ müsse beendet werden, solange das nicht geschehe, werde er Rostow blockieren und nach Moskau vorrücken, droht Prigoschin an. Er nennt das einen „Marsch der Gerechtigkeit“. Auf den Straßen Rostows liegen Soldaten und Spezialkräfte mit Gewehr am Anschlag auf dem Boden, Menschen gehen entlang des militärischen Geräts vorbei, begutachten die Lage.

    Diese ist seit Prigoschins Aufstand im gesamten Land unübersichtlich. Offenbar kontrollieren die „Wagnerowzy“, wie Prigoschins Söldner in Russland genannt werden, die wichtigsten militärischen Einrichtungen in Rostow. Prigoschin selbst spricht erst von der geplanten Einnahme Moskaus und einem baldigen neuen Präsidenten. Dann aber stoppt er den Vormarsch seiner Truppen auf die russische Hauptstadt Moskau. In einer von seinem Pressedienst veröffentlichten Sprachnachricht sagt er: "Unsere Kolonnen drehen um und gehen in die entgegengesetzte Richtung in die Feldlager zurück." Bislang sei "nicht ein Tropfen Blut unserer Kämpfer" vergossen worden, sagte Prigoschin. "Jetzt ist der Moment gekommen, wo Blut vergossen werden könnte." Deshalb sei es Zeit, die Kolonnen umdrehen zu lassen.

    Putin spricht von einem „Dolchstoß“ in den Rücken

    Der Söldner-Chef, der für die Schlachten in der Ukraine mithilfe des russischen Staates auch zahlreiche Gefangenen rekrutiert hatte, hat Sympathien in gewissen Kreisen. Wie die Vertreter in den Sicherheitsstrukturen des Landes reagieren werden, ist allerdings ungewiss.

    Am Samstagvormittag wendet sich Russlands Präsident Wladimir Putin in einer fünfminütigen Fernsehansprache an sein Volk. Er, der sich stets als Garant der Sicherheit feiern ließ, hat diese Rolle längst eingebüßt. Dennoch versucht er, sich bei seinem Auftritt als derjenige zu geben, der durchgreift. Eine Revolte führe nur zur Anarchie und sei tödlich für das Land und das Volk, sagt er und spricht von Bestrafung für jeden, der sich bewusst zum Verrat entschieden habe. 

    Er bezeichnet die Wagner-Kämpfer als Helden – in der Ukraine nahmen die „Wagnerowzy“ vor allem die Städte Soledar und Bachmut ein –, Prigoschin selbst aber nennt er nicht beim Namen, bezichtigt ihn aber des Hochverrats. Putin spricht von einem „Dolchstoß“ in den Rücken und vergleicht das Vorgehen mit der Oktoberrevolution 1917. Die Lage in Rostow bezeichnet er als „schwierig“, faktisch sei die Arbeit der zivilen und militärischen Verwaltung blockiert. Damit gesteht er ein, dass dem Kreml die Kontrolle entglitten ist.

    Prigoschin hat den Bogen überspannt – und den Streit eskalieren lassen

    Der Aufstand Prigoschins hatte sich seit Monaten abgezeichnet. Lange hatte der Söldner-Chef eine Carte blanche des Kremls, konnte schimpfen, kritisieren, beleidigen. All das tun, wofür andere längst wegen „Diskreditierung der russischen Armee“ ins Gefängnis geworfen worden wären. Prigoschin polterte in der besten Gossensprache gegen Schoigu, Putin ließ ihn gewähren, egal, wie weit Prigoschin die Grenzen des Sagbaren gedehnt hatte. 

    Nun hat er den Bogen überspannt – und den Streit eskalieren lassen. Doch damit endet auch seine faktische Unantastbarkeit. Die Generalstaatsanwaltschaft hat ein Strafverfahren wegen Organisation eines militärischen Aufstands gegen ihn eingeleitet. Darauf stehen 12 bis 20 Jahre Freiheitsentzug. Der Inlandsgeheimdienst FSB hatte bereits zuvor Ermittlungen angekündigt. Doch vor den Wagner-Kämpfern, denen nichts zu schade ist, haben auch Regierungsvertreter Angst – was die Szene mit dem Kaffee trinkenden Prigoschin zeigt. Der stellvertretende Verteidigungsminister und der stellvertretende Generalstabschef wirken ratlos.

    Die Lage im Land ist derweil brenzlig und ernst. Die Zufahrtsstraßen nach Rostow, an der Grenze zum Donbass, sind gesperrt. Mehrere Regionen haben alle öffentlichen Veranstaltungen abgesagt. In Moskauist am Montag arbeitsfrei. Zudem hat der Moskauer Bürgermeister die sogenannte „Antiterroristische Operation“ ausgerufen. Damit kontrolliert der FSB die Lage und hat dadurch zusätzliche Kompetenzen.

    Aufstand der Wagner Gruppe: „Sind diese Söldner dafür verantwortlich?“

    Er darf alle Gespräche abhören, die Nachrichten im Internet kontrollieren, darf Fahrzeuge konfiszieren und Wohnungen durchsuchen. Er darf auch ohne Verdacht die Menschen durchsuchen und jeglichen Verkehr einschränken. Auch in Woronesch, einer wichtigen Stadt weiter nördlich von Rostow, soll von Prigoschin-Truppen kontrolliert werden. 300 Kilometer der wichtigen Verbindung zwischen Moskau und dem Süden sind gesperrt.

    Auf den Straßen der Hauptstadt herrscht die übliche Ignoranz. „So ein Mist, das Schulabschlussfest meiner Tochter im Gorki-Park wurde abgesagt. Ich verstehe nicht, warum“, sagt ein Mann im Zentrum. „Sind diese Söldner dafür verantwortlich?“, fragt eine Frau ungläubig. „Aber was wollen sie denn überhaupt?“ Ein weiterer Mann beschwichtigt: „In ein paar Tagen ist alles wieder ruhig hier. Sie streiten sich, sie vertragen sich auch wieder. Wir haben eine wichtige Sache zu gewinnen“, meint er. Die „wichtige Sache“ ist der Krieg in der Ukraine, den viele Russinnen und Russen, wenn auch nicht gutheißen, so doch rechtfertigen. „Wir stecken nun drin, dann müssen wir es auch zu Ende führen und siegen“, sagen sie dann.

    Tschetscheniens Herrscher Kadyrow bietet Moskau seine Hilfe an

    Prigoschin hatte Schojgu vorgeworfen, dass dieser lediglich aus Eigennutz und für einen Stern auf den Schulterklappen das Land in den Krieg gegen die Ukraine gestürzt habe. Eine militärische Notwendigkeit habe nicht bestanden. Die Rede von der Entmilitarisierung und der Entnazifizierung – diese Schlagworte nennt Putin immer noch als Ziel des russischen Angriffs auf die Ukraine – sei ein von ihm geschaffener Mythos.

    Der 62-jährige Prigoschin ist das Gesicht des innenpolitischen und innermilitärischen Problems Russlands. Den Konflikt geschaffen aber hat der russische Präsident, der gewährte, dass mit dem Wissen des Staates Privatarmeen gegründet werden, die faktisch vom Staat bezahlt werden, vom Staat mit Waffen versorgt und mit Sträflingen bestückt werden. 

    Prigoschin ist nicht der einzige, der Parallelstrukturen aufgebaut hat. Auch Tschetscheniens Herrscher Ramsan Kadyrow hat eine bis auf die Zähne bewaffnete Truppe, die in der Ukraine kämpft. Kadyrow ließ sich vor zwei Wochen darauf ein, seine „Achmat“-Einheit unter Vertrag des russischen Verteidigungsministeriums laufen zu lassen. Prigoschin wehrte ab. Nun ist es Kadyrow, der Moskau seine Hilfe im Chaos anbietet. Ein Chaos, in das sich Moskau mit seinem „Abenteuer Krieg“ und den Lügen drumherum hineinmanövriert hat. 

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