Der Auftritt des Chefs der nationalkonservativen Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS), Jaroslaw Kaczynski, dauerte nur wenige Sekunden. Eine Zeitspanne, die ausreichte, den Grad an Verbitterung, ja des Hasses zu dokumentieren, den die abgelöste polnische Regierung für ihre Nachfolger empfindet: „Sie sind ein deutscher Agent“, schleuderte Kaczynski dem designierten Regierungschef Donald Tusk entgegen, der wie versteinert auf seinen Widersacher blickte. Minuten zuvor hatte Tusk noch vor dem Parlament versichert, dass die Gerüchte über seine Großväter, sich den deutschen Nazis angedient zu haben, nachweislich erlogen sind.
Für den Leiter des Warschauer Büros der Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS), David Gregosz, zeigt der Ausbruch Kaczynskis, wie stark der Blick auf die Geschichte prägendes Element der polnischen Innenpolitik ist: „Das können wir uns in Deutschland gar nicht vorstellen.“ Die Szene weckt böse Ahnungen, wie schwer es der Dreierkoalition aus Tusks Bürgerplattform (PO), dem Linksbündnis Lewica und dem christlich-konservativen Dritten Weg fallen wird, die tiefe Spaltung im Land zu überwinden. Die PiS hatte in trauter Kooperation mit dem Parteifreund und Staatspräsidenten Andrzej Duda alles getan, das unabwendbare Ende der Regierung von Ministerpräsident Mateusz Morawiecki hinauszuzögern. Doch dieses Spiel ist nun ausgespielt.
Donald Tusks Anklage an die Vorgängerregierung
Die PiS-Abgeordneten mussten am Dienstag Tusks Regierungserklärung über sich ergehen lassen. Donald Tusk verglich die Bedeutung der Wahlen vom 15. Oktober, die der PiS die Macht kosteten, mit dem 31. August 1980, dem Gründungsdatum der Gewerkschaft Solidarnosc, die letztlich das kommunistische Regime zu Fall brachte. Tusk klagte die Vorgängerregierung schonungslos an: Da ging es um Vetternwirtschaft, die Kaperung von Justiz und öffentlich-rechtlichen Medien, Hass gegen Migranten, die Herabwürdigung von Frauen und Homosexuellen – zusammengefasst um die Aushöhlung demokratischer Grundlagen.
Gleichzeitig versicherte Tusk, dass er eine Regierung für alle Polinnen und Polen anführen werde. Der 66-Jährige appellierte an die Wähler der Koalition, auf PiS-Anhänger im Bekanntenkreis oder in der Nachbarschaft ohne Belehrungen und Vorurteile zuzugehen.
Ist er der Mann, der die Versöhnung in Polen einleiten kann?
Ist Donald Tusk der Mann, der die Versöhnung in Polen einleiten kann? Schließlich galt er vielen Landsleuten nach seiner ersten Amtszeit von 2007 bis 2014 als Ministerpräsident als wenig empathischer Mann der Wirtschaft, kalt gegenüber den sozialen Nöten in ländlichen Regionen und im wirtschaftlich schwächeren östlichen Teil des Landes.
„Er selbst argumentiert natürlich, dass Polen zunächst einmal nach dem Fall des Eisernen Vorhangs mit marktwirtschaftlichen Reformen zu Wohlstand geführt werden musste. Heute sieht er mit Blick auf seine erste Regierungszeit vermutlich auch kritisch, dass dabei die soziale Sicherung vernachlässigt wurde“, sagt Gregosz, der daran glaubt, dass Tusk aus seinen Fehlern gelernt hat. Es sei ihm gelungen, mit dem Herz als Symbol seiner Kampagne und seiner zugewandten, zukunftsorientierten Art viele Unentschlossene, vornehmlich auch viele Frauen, für sich einzunehmen. „Bei unzähligen Besuchen in kleinen und mittleren Städten, beantwortete er in den Stadthallen geduldig einfache Fragen der Leute über Inflation, die Defizite im Gesundheitswesen und in der Bildungspolitik.“
Brüssel und Berlin hoffen auf einen Neustart der Beziehungen
Geprägt wurde der „neue“ Tusk sicher auch durch seine Zeit in Brüssel, als Präsident des Europäischen Rates von 2014 bis 2019. „Dabei hat er enorm an Statur gewonnen. Wenn man sich die politischen Figuren im Land anschaut, dann drängt sich die Frage auf, wer sonst dieses politische Gewicht, diese internationalen Kontakte hat?“ Nicht zuletzt in Brüssel und Berlin fallen die Reaktionen auf den Machtwechsel in Warschau geradezu euphorisch aus.
"Wir sind umso stärker, umso souveräner, je stärker die Europäische Gemeinschaft ist", sagte Tusk bei seiner Regierungserklärung. Doch Gregoszc warnt: Es werde zwar eine politische Wende im Verhältnis zur EU und zu Deutschland geben und einen ganz anderen Umgangston. „Doch Tusk wird als selbstbewusster Regierungschef eines starken Landes auftreten und jeden Eindruck vermeiden, er sei ein Befehlsempfänger – insbesondere gegenüber Deutschland.“ Gleich zu Beginn seiner Amtszeit werde er von der EU im Streit um die Blockade ukrainischer Lkw vehement mehr Verständnis für die polnische Agrarwirtschaft und die Logistikbranche einfordern. „Gerade gegenüber dem deutschen Kanzler Olaf Scholz wird er zunächst um Distanz bemüht sein.“
Einen Neustart für das vergiftete deutsch-polnische Verhältnis erwartet David Gregosz für 2024, dem Jahr der wichtigen Termine: So wird dem Kriegsausbruch vor 85 Jahren, dem Warschauer Aufstand vor 80 Jahren sowie der Versöhnung vor 35 Jahren gedacht werden. Gemeinsam.