Uhro Kekkonen war der "ewige Präsident" Finnlands. Er regierte von 1956 bis 1981. Der ruhige und bedachte Politiker, der 1986 starb, steuerte das skandinavische Land durch Jahrzehnte, in denen der Kalte Krieg Europa fest im Griff hatte. Kekkonens Überlebensstrategie: die Pflege möglichst entspannter Beziehungen zu dem Nachbarn im Osten, der waffenstarrenden Sowjetunion – ohne aber auf Unabhängigkeit und Demokratie zu verzichten. Entscheidender Teil dieses Konzepts war es, die Weltmacht nicht zu reizen und alles zu vermeiden, was in Moskau Zweifel an der strikten Neutralität Finnlands wecken könnte.
Seit dem 4. April 2023 ist Finnland Mitglied der Nato. Wie auch die frühere Neutralitätspolitik ist der Entschluss, jetzt der westlichen Allianz beizutreten, eine Reaktion auf die als bedrohlich empfundene Atommacht jenseits der Grenze. Schon Ende der 60er Jahre tauchte das Wort von der "Finnlandisierung" auf, das zunächst die Politik der Ära Kekkonen beschrieb. Später wandelte sich die Bedeutung – der Begriff wandelte sich zu einem abschätzigen Kampfbegriff im politischen Streit für die vorauseilende Aufgabe freiheitlicher Prinzipien, um einen mächtigen Nachbarn nicht zu verärgern.
Schon Franz Josef Strauß benutzte den Begriff "Finnlandisierung" im politischen Streit
Gerne bezichtigte der damalige bayerische Ministerpräsident Franz Josef Strauß SPD-Politiker, die eine Annäherung an Moskau oder Ost-Berlin anstrebten, der "Finnlandisierung". Finnland immerhin stand nach dem Ende des Kalten Krieges als demokratische, wirtschaftlich starke und trotz jahrzehntelanger Blockfreiheit westlich geprägte Nation da – so falsch also kann Uhro Kekkonens "Finnlandisierung" für das Land nicht gewesen sein.
Unstrittig ist, dass der russische Überfall auf die Ukraine am 24. Februar 2022 und die Kriegsverbrechen der Angreifer den Ausschlag für die große Zustimmung der finnischen Bevölkerung gaben, sich nun doch der Nato anzuschließen. Ganz aus dem Nichts kam der Antrag auf die Mitgliedschaft allerdings nicht. "Immer wieder, insbesondere im Jahr 2014 mit Blick auf die russische Annexion der Krim, wurde das Thema diskutiert. Doch eine Mehrheit war damals noch für die Neutralität", sagt der Sicherheits- und Militärexperte Christian Mölling im Gespräch mit unserer Redaktion.
Doch angesichts des völkerrechtswidrigen Angriffs auf die Ukraine wurde vielen Finninnen und Finnen ein nationales Trauma wieder schmerzhaft bewusst: der Angriff der Sowjetarmee im November 1939. In dem Krieg leistete die finnische Armee zähen Widerstand, doch der Waffengang und der Fortsetzungskrieg, der 1941 einsetzte, forderte zehntausende Tote, finnische Gebiete gingen verloren.
Wie Schweden, das ebenfalls dem Bündnis beitreten will, wollte sich das EU-Mitglied nicht mehr auf die bereits bestehende Beistandsformel der Europäischen Union verlassen. Die konkrete militärische Nato-Beistandsklausel im Falle eines Angriffs auf das eigene Territorium wird verständlicherweise als weit verlässlicher eingeschätzt. Daran wird sich nach den Wahlen in Finnland, die einen Rechtsruck brachten, nichts ändern. Auch der designierte Ministerpräsident Petteri Orpo, Chef der konservativen Nationalen Sammlungspartei, befürwortet den vollzogenen Nato-Beitritt.
Die finnischen Streitkräfte können schnell hunderttausende Männer und Frauen mobilisieren
Finnland geht selbstbewusst in die Allianz. "In der Gesellschaft lebt ein hohes Maß von Resilienz und Verteidigungswillen", sagt Mölling. Basis dafür bildet nicht zuletzt die Schlagkraft der Streitkräfte. Mölling: "Es gibt den schönen Spruch 'Finnland hat keine Armee, Finnland ist eine Armee'."
Was etwas pathetisch klingt, spiegelt sich in Zahlen wider. Die rund 24.000 aktiven Soldaten, die bereitstehen, mögen zunächst wenig beeindruckend erscheinen. Doch im Falle einer Krise kommen schnell 250.000 gut ausgebildete Frauen und Männer hinzu. In einem weiteren Schritt können bis zu 600.000 zusätzliche Reservisten in die Waagschale geworfen werden.
Enorm für ein Land mit einer Bevölkerung von nur 5,5 Millionen Menschen. Enorm lang ist mit mehr als 1300 Kilometern allerdings auch die Länge der Grenze zu Russland. Doch die Finnen verfügen über eine der stärksten Artillerien auf dem Kontinent, moderne Kampfjets und Panzer. "Mir hat ein finnischer Kommandeur mal gesagt, dass ihr in Deutschland eure militärischen Strukturen immer weiter zurückgebaut habt, während wir Finnen sie gepflegt haben", erklärt Mölling.
Für Moskau ist die nun auch militärisch eindeutige Westorientierung Finnlands ein geopolitisches Desaster. Die Ankündigung, die Truppen an der Grenze zu Finnland aufzustocken, klingt matt. Der Kreml spricht von einer existenziellen Bedrohung für die eigene Sicherheit durch die Ausweitung der Nato. Dabei dürfte Russlands Führung wissen, dass Finnland und auch Schweden aus rein defensiven Erwägungen handeln.
Mölling glaubt nicht, dass der russische Präsident Wladimir Putin damit gerechnet hat, dass die Nato sich als Reaktion auf den Ukraine-Krieg im Norden Europas erweitert. "Putin hat in einigen Punkten recht behalten. So zum Beispiel, was die Empfänglichkeit für Desinformation und falsche Friedensnarrative in einigen europäischen Ländern wie Deutschland betrifft. Aber was die Entschlossenheit der politischen Spitzen in den meisten westlichen Ländern anbelangt, gegen Russlands Aggression vorzugehen, hat er sich völlig verschätzt."
Manche bedauern, dass Finnland als Vermittler zwischen West und Ost wohl ausfällt
Manche Beobachter sehen auch einen Verlust durch die Aufgabe der finnischen Neutralität. So erklärte der Militärexperte bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), Wolfgang Richter, im Mai 2022 im Gespräch mit unserer Redaktion, dass er bedauere, dass Helsinki nach einem Nato-Beitritt "als wichtiger Vermittler zwischen dem Westen und Russland wegfallen" würde.
Christian Mölling hat eine andere Sichtweise: "Der finnische Präsident Sauli Niinistö hatte noch bis zum Beginn des Krieges einen sehr engen Austausch mit Putin. Wenn dann der frühere Vermittler angesichts des russischen Angriffs sagt 'jetzt ist Schluss' und eine radikale Wende einleitet, müsste bei allen endlich das Licht angehen und klar sein, dass da tatsächlich so etwas wie eine Zeitenwende im Gange ist."