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Analyse: Russland zwischen Krieg und Frieden: Wohin steuert Moskau?

Analyse

Russland zwischen Krieg und Frieden: Wohin steuert Moskau?

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    Wladimir Putin, Präsident von Russland, versetzt derzeit den Westen in Angst.
    Wladimir Putin, Präsident von Russland, versetzt derzeit den Westen in Angst. Foto: Denis Balibouse, dpa

    Wolodymyr Selenskyj würde den Ball am liebsten flach halten. „Es gibt genug Gründe zu Optimismus“, erklärt der ukrainische Präsident zu einem drohenden Krieg mit Russland. „Wir sind zu allem bereit und tun alles für eine friedliche Einigung.“ Der Ball allerdings liegt im russischen Feld. Der Aufmarsch von mehr als 100.000 Soldaten ist ein unübersehbares Signal der Stärke. Zumal die USA und die Nato erklärt haben, im Ernstfall nicht militärisch einzugreifen. Die Entscheidung über das weitere Schicksal der Ukraine fällt daher in Moskau. Offen ist, wie weit der russische Präsident Wladimir Putin im äußersten Fall gehen würde. Vier Szenarien sind am plausibelsten.

    1. Invasion: Russische Truppen haben die Ukraine fast vollständig eingekreist. Im Norden üben Putins Soldaten gemeinsam mit der belarussischen Armee. Im Osten hat Moskau bei Smolensk, Woronesch und Rostow seine Hauptstreitmacht zusammengezogen. Hinzu kommen rund 30.000 prorussische Kämpfer im besetzten Donbass. Im Süden sind fast ebenso viele Soldaten auf der annektierten Krim stationiert. Dennoch sagt Oberst a. D. Wolfgang Richter, Osteuropaexperte der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin: „Die militärischen Kräfte Russlands, die derzeit vor Ort sind, würden nicht ausreichen, um die ukrainische Armee zu überwältigen.“ Eine groß angelegte Invasion sei daher „derzeit keine realistische Option“. Die nötige Verdoppelung der Truppenstärke wäre zwar möglich, würde aber Zeit brauchen. Doch selbst dann wären die Verluste hoch. „Und wenn Särge mit toten Soldaten nach Hause kommen, lässt sich das nicht verheimlichen“, sagt Richter. Außerdem würde der Westen bei einer Invasion mit den härtesten Sanktionen reagieren. Perspektivisch hätte eine Besatzungsarmee zudem mit einem Partisanenkrieg zu rechnen.

    Fazit: Das Schreckensszenario eines großen Krieges ist wenig wahrscheinlich.

    Dieses von Maxar Technologies zur Verfügung gestellte Satellitenbild zeigt den Einsatz von Kampfgruppen auf dem Truppenübungsplatz Pogonovo in Woronesch, Russland, am 16. Januar 2022.
    Dieses von Maxar Technologies zur Verfügung gestellte Satellitenbild zeigt den Einsatz von Kampfgruppen auf dem Truppenübungsplatz Pogonovo in Woronesch, Russland, am 16. Januar 2022. Foto: Uncredited

    2. Annexion: Militärisch leicht zu realisieren wäre ein Einmarsch russischer Truppen in den Donbass mit dem Ziel einer Annexion, also einer Eingliederung ins russische Reich. In den sogenannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk haben seit 2014 kremltreue Separatisten das Sagen. Russland hat dort rund eine halbe Million Pässe ausgegeben. Widerstand der Bevölkerung ist nicht zu erwarten. Doch was wäre für Putin damit gewonnen? Sein erklärtes Ziel ist es ja, sich entscheidenden Einfluss auf die gesamte Ukraine zu sichern. Das Nachbarland sei schon immer „Teil der großen russischen Nation“ gewesen, argumentiert Putin. Historisch ist das unhaltbar. Die Ansage spricht aber für weitergehende Pläne des Kremls. Dazu könnte eine Invasion in der Südukraine zählen. Die Eroberung eines Landkorridors über die Hafenstadt Mariupol bis zur Krim gilt als realistische Option. Militärisch möglich wäre auch eine Besetzung und Annexion der gesamten ukrainischen Schwarzmeerregion. Zurück bliebe eine Rest-Ukraine ohne Zugang zur See. Doch auch das wäre mit erheblichen russischen Verlusten verbunden, ohne dass Putin sein eigentliches Ziel erreicht hätte.

    Fazit: Eine Annexion weiterer ukrainischer Gebiete ist realistisch, aber im Kreml vermutlich nicht die erste Wahl.

    Will Putin einen Statthalter in Kiew installieren?

    3. Regimewechsel: Präsident Selenskyj berichtete schon im Herbst über angebliche Putschpläne prorussischer Oligarchen in Kiew. Zuletzt erklärte die britische Regierung unter Verweis auf Geheimdienstquellen, es gebe in Moskau Planspiele für einen gewaltsamen Regimewechsel in der Ukraine. Ziel sei es, eine kremltreue Marionettenregierung einzusetzen. Die russische Führung weist das als „wirres Zeug“ zurück. Tatsächlich jedoch wäre ein Regimewechsel zweifellos die attraktivste Option für Putin. Eine von Moskau abhängige Regierung, wie in Belarus oder Kasachstan, passt perfekt in das geopolitische Kalkül des Kremls. Eine Demokratisierung oder gar ein Nato-Beitritt der Ukraine wären damit vom Tisch. Das Problem: Ohne größere Militäroperation lässt sich ein „Regime Change“ in Kiew kaum realisieren. Viel zu groß wäre der Widerstand in der westlich orientierten Bevölkerung. Es ist auch unwahrscheinlich, dass die Führung oder große Teile der Armee auf die prorussische Seite überlaufen würden wie 2014 bei der Krim-Annexion.

    Fazit: Ein Regimewechsel ist für Putin das attraktivste Szenario. Offen ist, ob seine Militärberater dafür eine realistische Chance sehen.

    Wolodymyr Selenskyj, Präsident der Ukraine, hofft auf eine friedliche Lösung des Konflikts.
    Wolodymyr Selenskyj, Präsident der Ukraine, hofft auf eine friedliche Lösung des Konflikts. Foto: dpa

    Auch Frieden ist eine Möglichkeit im Konflikt

    4. Friedenslösung: Angesichts des bereits erreichten Eskalationsniveaus klingt es höchst unwahrscheinlich, dass West und Ost zu einer echten Einigung finden können. Osteuropaexperte Richter ist gleichwohl überzeugt: „Die Diplomatie hat noch einen realen Spielraum.“ Dafür spricht, dass nicht nur zwischen Washington und Moskau verhandelt wird. Es gibt auch neue Beratungen im Normandie-Format, bei dem Russland, Frankreich, Deutschland und die Ukraine am Tisch sitzen. Das Problem ist, dass der Kreml die Latte extrem hoch gelegt hat: keine Nato-Erweiterungen mehr, einseitige Abrüstung, Truppenabzug auch aus Ostmitteleuropa. Für all das verlangt Russland Garantien, die der Westen nicht geben wird. Zumal er damit fundamentale völkerrechtliche Prinzipien aushebeln würde, etwa das Recht auf Selbstbestimmung der Ukraine. Gespräche über Rüstungskontrolle und einen beidseitigen Verzicht auf die Stationierung von Mittelstreckenraketen könnten aber den Weg zu einem Friedensprozess ebnen. „Das sind wichtige Ideen, die deeskalierend wirken“, sagt Richter.

    Fazit: „Die Hoffnung stirbt zuletzt“ ist ursprünglich eine russische Redensart. Eine Friedenslösung für die Ukraine wirkt derzeit zwar wenig realistisch. Eine Chance jedoch gibt es, zumal alle militärischen Alternativen erhebliche Nachteile auch für Russland hätten.

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