Die Tatsache, dass die militärische Weltmacht Russland die Eroberung von Kiew abbrechen musste, ist für sich genommen ein erstaunlicher Erfolg der ukrainischen Streitkräfte. Zeit durchzuatmen, bleibt dem Präsidenten Wolodymyr Selenskyj aber nicht. Im Gegenteil. Die Nachrichten aus dem Osten seines Landes sind dramatisch, sie lassen eine weitere Eskalation eines Krieges fürchten, der bereits viele tausend Menschenleben gekostet hat. Die britischen Geheimdienste erwarten in den kommenden Tagen oder Wochen eine russische Offensive im Donbass.
Aufhorchen lässt nicht zuletzt eine Personalie, die nichts Gutes für Zivilisten verspricht, die direkt von dem russischen Angriffskrieg betroffen sind oder bald sein könnten: Der russische Präsident Wladimir Putin hat einen Mann an die Spitze seiner Invasionsstreitkräfte gesetzt, dem ein Ruf wie Donnerhall vorauseilt: General Alexander Dwornikow wurde zum Kommandanten für die russische Armee in der Ukraine ernannt, wie die britische BBC berichtete. Er soll, so vermuten viele Beobachter, dem Kreml-Chef die bisher vergeblich herbeigesehnten militärischen Erfolge bescheren. Und zwar möglichst bis zum 9. Mai, dem Tag, an dem Russland traditionell den „Tag des Sieges“ der Sowjetarmee über Nazi-Deutschland mit einer Militärparade und einer Ansprache des Präsidenten feiert.
Dwornikow könnte in der Ukraine auch zivile Ziele angreifen
Die Befürchtung ist, dass Dwornikow alle Mittel einsetzen wird, um möglichst schnell mit Unterstützung ostukrainischer Separatisten im Donbass vorzurücken, auch den letzten Widerstand in der nahezu völlig zerstörten Hafenstadt Mariupol zu brechen. Was „alle Mittel“ bedeuten kann, hat der 60-jährige Dwornikow nach Überzeugung vieler Militärexperten und Menschenrechtsgruppen 2015 bis 2016 als Kommandeur der russischen Streitkräfte in Syrien gezeigt.
In dieser Zeit hat die russische Luftwaffe bis zu 10.000 Angriffe geflogen. Dabei wurden, wie schon Ende der 90er Jahre im Tschetschenien-Krieg, zivile Ziele keineswegs geschont. Human Rights Watch dokumentierte gezielte Angriffe auf Wohngebiete, Krankenhäuser, Schulen oder belebte Märkte. Das bestätigte der Sprecher der deutschen Sektion der Menschenrechtsorganisation, Wolfgang Büttner, im Gespräch mit unserer Redaktion. Symbol für die systematische, brutale Zermürbungstaktik wurde die einst blühende Stadt Aleppo.
Dwornikow erhielt für seinen Syrien-Einsatz, der dem Diktator Baschar al-Assad half, sich an der Macht zu halten, die hohe militärische Auszeichnung „Held der Russischen Föderation“. Das Urteil des früheren Oberbefehlshabers der Nato, James Stavridis, über Dwornikow in einem Interview mit NBC News ist hingegen drastisch: „Er ist der Schlägertyp, den Putin gerufen hat, um Städte wie Aleppo in Syrien dem Erdboden gleichzumachen. Er ist der Schlimmste der Schlimmsten“, sagte der US-Admiral mit Blick auf sie Berufung des Generals.
Dwornikow kennt die Situation in der Ukraine sehr gut. Vom Herbst 2016 an war er als Befehlshaber für die südlich an die Ukraine angrenzenden Gebiete zuständig – auch für die von Russland annektierte Krim. Als erster Kommandeur für die gesamte Armee Russlands in der Ukraine soll Dwornikow dazu beitragen, dass die oft katastrophale Kommunikation und Koordination zwischen den russischen Einheiten gebündelt und verbessert wird.
Russlands Brutalität im Krieg in der Ukraine könnte noch zunehmen
Dass die Einhaltung des Völkerrechts für Moskaus Kriegsführung keine große Rolle spielt, haben Angriffe auf zivile Ziele, der Einsatz von Streubomben oder die Gräueltaten, die in Butscha und anderen Orten ans Tageslicht kamen, gezeigt. Befürchtet wird, dass sich die Brutalität unter der Ägide Dwornikows weiter steigert. Unklar ist, ob der General bereits für den Raketenangriff auf den von Flüchtlingen belagerten Bahnhof der Stadt Kramatorsk, bei dem mehr als 50 Todesopfer zu beklagen sind, verantwortlich ist.
Seit Wochen warnen westliche Politiker Moskau vor dem Einsatz von chemischen Waffen. Am Montagabend wurden zunächst über Twitter Meldungen verbreitet, die diesen Befürchtungen neue Nahrung geben: Ukrainische Militärs im eingeschlossenen Mariupol beschuldigen Russland beziehungsweise pro-russische Separatisten, Giftgas gegen ukrainische Kämpfer eingesetzt zu haben. Mehrere Soldaten würden unter Vergiftungserscheinungen leiden. Die ukrainische Regierung bestätigte den Vorfall nicht, sprach aber von Hinweisen auf einen Giftgaseinsatz und kündigte eine Untersuchung ein.
Vieles deutet auf eine russischen Großoffensive in der Ostukraine hin
Es dürfte eine Frage der Zeit sein, wann die russischen Streitkräfte ihre Offensive im Osten der Ukraine starten. Das US-Pentagon sprach am Dienstag von Satellitenbildern, die einen kilometerlangen Militärkonvoi zeigen würden, der sich von Norden aus in Richtung Charkiw und Isjum bewegt. Weitere Einheiten könnten von Süden versuchen, vorzustoßen, um die ukrainischen Verbände in die Zange zu nehmen. Der deutsche Militärexperte Carlo Masala erwartet bereits nach Ostern einen russischen Großangriff. Er rechne allerdings nicht damit, dass die russischen Verbände schnelle Erfolge erreichen werden, sagte Masala dem Stern.
Demonstrativ siegessicher hingegen hat sich Putin, der noch immer von einer „Spezialoperation“ statt von Krieg spricht, geäußert. Die Ziele in der Ukraine würden erreicht, sagte Putin am Dienstag während der Besichtigung des russischen Weltraumbahnhofs „Wostotschny“ im äußersten Osten des Landes der Agentur Interfax. „Daran gibt es keinen Zweifel.“