Man muss diese Geschichte mit Maria Kolesnikowa beginnen. Mit dieser 38-jährigen Musikerin aus Minsk, die im Sommer die Freiheitsrevolte in Belarus anführte. Immer wieder formte sie mit ihren Händen ein Herz, lachte, tanzte und versuchte sogar mit schwer bewaffneten Omon-Polizisten zu reden. Bis Diktator Alexander Lukaschenko seine Männer losschickte. Anfang September fielen Maskierte über Kolesnikowa her, zerrten sie in einen Van und brachten sie zur ukrainischen Grenze, um sie ins Exil zu zwingen. Doch kaum kam das Auto am Kontrollposten zum Stehen, da „zerriss Maria ihren Pass, warf die Fetzen aus dem Fenster und kletterte hinterher. Ohne Papiere war die Abschiebung unmöglich. Maria hat sich lieber festnehmen lassen, als ihr Land zu verlassen.“
So schilderte es später Kolesnikowas Sprecher Anton Rodnenkow, mit dem man diese Geschichte auch beginnen könnte. Denn dieser Rodnenkow, gerade 30 Jahre alt, sagte schlicht: „Was Maria gemacht hat, hätte ich nicht gekonnt. Aber deswegen ist sie auch die Anführerin, und ich bin nur der Sprecher.“ Eine junge Frau als Kopf einer Revolution, ein junger Mann, der ihr den Rücken stärkt: Kaum eine Szene machte den Wandel, der den Osten Europas 2020 erfasst hat, so spürbar wie diese.
Schlagartig wurde klar, dass da eine neue Generation nachwächst. Eine moderne, mutige, optimistische Generation, die vollkommen anders tickt als das postsowjetische Patriarchat, wie es Lukaschenko verkörpert, dieser 66-jährige Diktator im Renteneintrittsalter, der sich gern mit Kalaschnikow in der Hand filmen lässt, um seine Macht zu demonstrieren. Der prügeln lässt. Und foltern. Und töten.
Belarus: Regime musste Wahlergebnisse eklatant fälschen
Wer wird siegen? Am Ende dieses Jahres 2020 ist Lukaschenko noch im Amt. Kolesnikowa dagegen sitzt in einem KGB-Gefängnis. Es ist still geworden um die Frau mit dem ansteckenden Lachen. Als der Herbst begann, hatte ihr Vorbild noch aus der Haft heraus auf die Menschen gewirkt: „Wir sind Maria“, hatten sie immer wieder skandiert. Zu dem Zeitpunkt war es längst üblich geworden, dass sich Frauen bei Protesten vor ihre Männer stellten, um sie zu schützen. Denn zu Lukaschenkos Weltbild gehörte es, dass er seine Schlägertrupps nicht gegen „das schwache Geschlecht“ einsetzte. Ausnahmen waren die Führungsfiguren.
Und zwar außer Kolesnikowa vor allem Swetlana Tichanowskaja, die bei der Präsidentschaftswahl gegen Lukaschenko antrat. Mit ihrer Ernsthaftigkeit entfesselte sie eine solche Aufbruchsenergie, dass das Regime die Ergebnisse eklatant fälschen musste, um dem Diktator den Sieg zu sichern.
Ein Frauenbild, so falsch wie das Wahlergebnis
Kurz nach der Wahl unterzogen KGB-Spezialisten Tichanowskaja einer Psychofolter. In einer erpressten Videoansprache musste sie sich verbal entblößen: „Ich bin eine schwache Frau.“ Das passte endlich wieder in das Bild, das Lukaschenko sehen wollte: „Diese arme Frau weiß doch gar nicht, wovon sie redet. Sie ist unfähig, ein Amt wie das meine auszuüben.“ Das Bild war aber offenkundig so grundfalsch wie das Wahlergebnis. Tichanowskaja stand schnell wieder auf und lenkt seither die belarussische Opposition aus ihrem Exil in Litauen. Bei einem Besuch in Berlin las sie kurz vor Weihnachten der europäischen Politik die Leviten: „Es gibt viele Worte der Unterstützung. Wir brauchen aber Taten.“ Das klang nach Wut. 2021 wird sich zeigen, wie weit diese neue Energie in Belarus trägt.
Oder auch in Polen. Denn in dem katholischen EU-Staat sind es ebenfalls vor allem junge Frauen, die bei Protesten auf die Barrikaden steigen und für Freiheit und Wandel kämpfen. Sie wollen eine „Rückkehr des Patriarchats verhindern“. Oder ist es längst zurück? Mit der rechtskonservativen PiS regiert in Warschau seit 2015 eine unübersehbar männlich geprägte Partei. Im Kabinett sitzt mit Familienministerin Marlena Malag eine einzige Frau neben 20 Männern. Verantwortlich für die Personalpolitik ist der alternde PiS-Chef Jaroslaw Kaczynski. Der 71-Jährige bekannte sich erst kürzlich wieder zu einem klassischen katholischen Geschlechterbild: „Das moralische System, das uns die Kirche überliefert hat, ist das einzige, das in unserem Land allgemein akzeptiert ist.“
Vor dem roten Blitz zuckte sogar Jaroslaw Kaczynski zurück
Wie in Belarus, so war es auch in Polen eine Präsidentschaftswahl, die 2020 etwas ins Rutschen brachte. Die PiS und ihr Kandidat Andrzej Duda bauten ihre Kampagne auf den Kampf gegen „die LGBT-Ideologie“ auf, von der PiS-Politiker wie Przemyslaw Czarnek sprachen: „Hören wir auf, diesen Schwachsinn über Menschenrechte anzuhören. Diese Leute sind keine normalen Menschen.“ Gemeint waren Homosexuelle und Transgender. Duda gewann die Wahl knapp. Doch der „homophobe Tsunami“, von dem die Warschauer Soziologin Cecylia Jakubczak sprach, wurde zum Wendepunkt. „Das ist ein Krieg“, lautete im Herbst das Motto der Organisation „Gesamtpolnischer Frauenstreik“. Die jungen Aktivistinnen mobilisierten trotz einer zweiten Corona-Welle im Land zeitweise zehntausende Menschen zum Protest gegen eine weitere Verschärfung des Abtreibungsrechts. Die PiS wollte Schwangerschaftsabbrüche selbst bei einer zu erwartenden Totgeburt verbieten.
Vereinzelt stürmten daraufhin wütende Frauen in Kirchen, um vor dem Altar zu protestieren. Ihr Symbol war ein roter Blitz, vor dem schließlich sogar Kaczynski zurückzuckte. Die PiS legte das Abtreibungsgesetz auf Eis. Der Ausgang des Konflikts in Polen ist so offen wie der in Belarus. Der deutsche Politikwissenschaftler Klaus Bachmann, der in Warschau lehrt, verglich die Situation im Osten kürzlich mit der Lage in Westeuropa während der 1970er Jahre.
In Polen sei ein ähnlicher Wertewandel zu beobachten, der „von einer rapiden gesellschaftlichen Säkularisierung begleitet wird sowie von einer tiefen Krise der katholischen Kirche“, hat Bachmann beobachtet. Im Land der Marienstatuen, so scheint es, hat wohl auch die Idee endgültig ausgedient, dass sich Frauenglück allein in Mutterschaft erschöpft.
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