Gefeiert wird derzeit bei der Nato – leise zwar, aber mit großem Stolz und der Präsentation des Nordatlantikvertrags im Brüsseler Hauptquartier. Immerhin blickt das Verteidigungsbündnis zurück auf „75 Jahre Frieden und Freiheit“ für den Kreis der Mitglieder, wie ein Nato-Beamter im Vorfeld des zweitägigen Außenministertreffens formulierte.
An einem schweren Mahagoni-Tisch unterzeichneten die zwölf Außenminister der Gründerstaaten am 4. April 1949 den Vertrag der Allianz. Obgleich 1500 Gäste nach Washington eingeladen waren, blieb die Zeremonie eher nüchtern. Eine Militärkapelle spielte Werke von George Gershwin – mehr Swing also als pathetische Töne. Harry S. Truman erwähnte nicht einmal, gegen wen die neue Allianz aus zwölf Mitgliedern gerichtet war. Der US-Präsident sagte bei der damaligen Zeremonie, dass der Vertrag „ein Schutzschild gegen Aggression und Angst vor Aggression schaffen wird – ein Bollwerk, das es uns ermöglichen wird, mit der wirklichen Aufgabe fortzufahren, ... ein erfüllteres und glücklicheres Leben für alle unsere Bürger zu erreichen“.
Den Gründern ging es um die Eindämmung sowjetischer Expansionspläne
Das Ziel des Bündnisses, das Truman fast lyrisch umschrieben hatte, war eindeutig: die Eindämmung der sowjetischen Expansionspläne. Einen letzten Anstoß gaben der von Moskau orchestrierte kommunistische Umsturz in der Tschechoslowakei 1948 und die Berlin-Blockade im selben Jahr. Zu dem „Bollwerk“ Nato gehörte Deutschland als geächteter Verlierer des Zweiten Weltkrieges nicht. Doch die Bundesrepublik lag an der Frontlinie zwischen den Blöcken. 1955 war es doch soweit, die junge Demokratie stieß zum westlichen Bündnis: „Die Nato kann nicht bestehen ohne Deutschland. Und wenn die amerikanischen Truppen sich aus Deutschland zurückziehen, dann ist es aus mit uns. Das wollen natürlich die Russen“, sagte Kanzler Konrad Adenauer 1958 zu der Rolle seines Landes innerhalb der Allianz.
75 Jahre später hat sich am Ziel der mittlerweile 32 Mitglieder zählenden Organisation nicht viel geändert. Und auch der aktuelle Gegner sitzt wie der ursprüngliche globale Gegenspieler in Moskau. Die Nato besinnt sich wieder auf ihre Kernaufgabe: als System kollektiver Verteidigung und mit dem Mittel militärischer Abschreckung die Expansionsbestrebungen des Kremls aufzuhalten. Russlands Präsident Wladimir Putin hat der Nato spätestens mit seinem Generalangriff auf die Ukraine Anfang 2022 wieder Bedeutung und Relevanz verschafft.
Krisen und Anfeindungen erlebte das Bündnis immer wieder
Krisen und Anfeindungen auch im Westen erlebte das Bündnis immer wieder. Auch in der Bundesrepublik setzte in den späten 60er-Jahren ein Wandel ein. Während des Vietnamkrieges formierte sich – insbesondere in Teilen der jungen Generationen – heftiger Widerstand gegen die USA und folgerichtig auch die Nato. Der gesellschaftliche Konflikt um die Nachrüstung im Zuge des Nato-Doppelbeschlusses fand seinen Höhepunkt 1983, als Millionen Deutsche auf die Straße gingen. Ein Riss ging quer durch viele Familien. Während Kinder sich auf Schulhöfen zu Peace-Zeichen zusammenstellten und in der Nato ein Bündnis von Kriegstreibern sahen, setzten ihre Eltern auf die Allianz als Garant zum Schutz vor „den Russen“. Doch am Ende wurden die Nuklearwaffen aufgestellt, während der Warschauer Pakt in eine existenzielle Krise taumelte und sich 1991 schließlich auflöste.
Nach dem Ende des Kalten Krieges war die Hoffnung auf eine Friedensdividende, auf Verständigung und Kooperation mit Russland groß. Doch in den Jahren nach der Jahrtausendwende veränderte sich die Szenerie. Für Wladimir Putin bedeutete der Zusammenbruch der Sowjetunion eine Tragödie, die es zu korrigieren galt.
Ein Einschnitt für die Nato war die große Erweiterungsrunde 2004
Ein Einschnitt für die Nato war die größte Erweiterungsrunde um sieben Mitglieder vor 20 Jahren – Rumänien, Bulgarien, Slowenien, die Slowakei und die drei baltischen Staaten traten dem Bündnis 2004 bei. Bezeichnend ist, dass in den Ländern, die Russland geografisch am nächsten liegen, die Begeisterung am größten war. Putins Erzählung einer aggressiven Einkreisung durch die Nato gründet nicht zuletzt auf der Erweiterung von 2004. Doch es war die Bedrohung durch Putins Russland, die Staaten in die Nato trieb und treibt. Oder wie die satirische Website Postillon kalauerte: „Russland startet Weltraummission: Mond stellt Eilantrag auf Nato-Mitgliedschaft.“
Vor gar nicht allzulanger Zeit befand sich die transatlantische Allianz erneut in einer tiefen Sinnkrise. Der französische Präsident Emmanuel Macron bescheinigte ihr den „Hirntod“. Doch der Patient ist spätestens seit Russlands Angriff auf die Ukraine wieder quicklebendig. Einerseits. Andererseits ist die Wiederbelebung auch ein Symbol düsterer Zeiten, wie ein hochrangiger Diplomat eingesteht. „Wenn die Nato Konjunktur hat, heißt das, dass es der Welt schlecht geht.“
Das Bündnis steht vor einer Zerreißprobe: Von außen bedroht durch einen Krieg mitten in Europa, von innen durch diejenigen, die sie für obsolet halten wie etwa Donald Trump, der möglicherweise bald als US-Präsident ins Weiße Haus zurückkehren könnte. Unlängst drohte Trump jenen Partnern, deren Verteidigungsausgaben nicht die Zielmarke erreichen, im Fall eines russischen Angriffs keine amerikanische Unterstützung zu gewähren. Das wäre insofern ein existenzielles Problem, weil das Verteidigungsbündnis auf dem Prinzip Abschreckung basiert. Die gemeinsame Sicherheitsgarantie beruht auf Artikel 5, der besagt, dass eine Attacke auf ein Nato-Mitglied ein Angriff auf alle ist.
Einen Paradigmenwechsel vollzog das Bündnis beim großen Gipfel in Madrid im Juni 2022 mit der Verabschiedung eines neuen strategischen Konzepts, das eine politische wie militärstrategische Zeitenwende markierte, wenn man diesen Begriff bemühen will. Er beinhaltet eine massive Aufrüstung und eine Stärkung der Ostflanke. Außerdem traten im April 2023 erst Finnland, dieses Jahr auch Schweden offiziell dem Nordatlantikrat bei. Hatte Putin als erklärtes Ziel der Invasion in die Ukraine ausgegeben, weniger Nato zu bekommen, erhielt er „genau das Gegenteil“, wie Generalsekretär Jens Stoltenberg regelmäßig betont.
Die erhoffte "strategische Partnerschaft" mit Russland erwies sich als Wunschvorstellung
Das Konzept löste jenes aus dem Jahr 2010 ab, als Russland noch als „strategischer Partner“ galt. Eine Wunschvorstellung, wie Russlandexperten damals schon warnten. Doch die Hoffnung auf bessere Zeiten nach dem Ende des Wettrüstens 1989 und der Ära der Abrüstungsverträge wirkte noch immer nach. Gleichwohl geriet die Allianz in eine Sinnkrise. Was war ihre Daseinsberechtigung? Die Mission im Kosovo kann als Erfolg gelten. Der Einsatz in Afghanistan endete dagegen im Sommer 2021 nach 20 Jahren mit einem desaströsen Abzug – ein Debakel, das gerne ignoriert wird.
Der frühere britische Premierminister Winston Churchill sagte einmal, dass es nichts gebe, was die Russen „so bewundern wie Stärke, und dass sie vor nichts weniger Respekt haben als vor Schwäche, insbesondere militärischer Schwäche“. Mehr als acht Jahrzehnte nach Churchills Ausführungen ist es wieder dieser Gedanke, von dem sich die Nato leiten lässt. So trainiert die Allianz seit Februar mit rund 90.000 Soldaten. Das Manöver „Steadfast Defender“ (standhafter Verteidiger) ist die größte Übung des Verteidigungsbündnisses seit Jahrzehnten. Sie soll die Fähigkeit demonstrieren, den euro-atlantischen Raum durch eine Verlegung von US-Truppen zu verstärken und als Beleg dienen für die Entschlossenheit des Bündnisses zum gegenseitigen Schutz.
Wie sieht die Zukunft der Allianz aus?
Doch wie sieht die Zukunft der Nato aus? Während ein Lager, angeführt von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, darauf pocht, auch die Entsendung von Bodentruppen in die Ukraine zumindest nicht auszuschließen – Stichwort „strategische Ambiguität“, nach der man als Instrument der Abschreckung keineswegs vorab rote Linien definieren dürfe –, bezeichnete ein Diplomat diese Woche einen solchen Schritt als „die röteste aller roten Linien“.
Wird die Allianz doch bald zur Kriegspartei? Oder ist sie das längst? Mit der Lieferung von Waffen an die Ukraine wollte sie nichts zu tun haben. Vielmehr kam die Militärhilfe von den einzelnen Mitgliedstaaten. Abseits der Nato, wohlgemerkt. Nun forderte Stoltenberg, dass die Allianz die Koordinierung der Unterstützung übernimmt. Die Trennlinien, sie scheinen sich zu verwischen. Die Allianz wird kreativ darauf reagieren müssen. Es wäre nicht das erste Mal.