In der EU dient in der Regel als deutlicher Beleg, dass etwas völlig unklar ist, wenn die Verantwortlichen unaufhörlich behaupten, die Sache sei „völlig klar“. Der inflationäre Gebrauch dieser Versicherung während der Pressekonferenz der EU-Kommissionssprecher am Dienstag demonstrierte denn auch, welches Chaos zu Beginn der Woche in Brüssel herrschte. Es ging um die Frage, wie die Gemeinschaft auf den Angriff der islamistischen Terrororganisation Hamas auf Israel reagieren soll. Stellen die Europäer alle Zahlungen an die Palästinenser ein oder nicht? Immerhin belief sich 2022 die finanzielle Unterstützung auf fast 300 Millionen Euro, womit nicht nur Krankenhäuser, Infrastrukturprojekte oder Schulen im Westjordanland und in Ostjerusalem finanziert werden, sondern auch Gehälter und Renten von Beamten der Palästinensischen Autonomiebehörde in Ramallah.
Die Linie sei „völlig klar“, hieß es also vom Kommissionssprecher: Demnach werden nicht, wie zuvor von dem zuständigen EU-Kommissar Oliver Varhelyi angekündigt, alle Zahlungen sofort ausgesetzt. Aber weil derzeit keine Überweisungen vorgesehen seien, so wiederholten sie am Dienstag die gewundene Aussage aus ihrer Pressemitteilung vom Vorabend, werde es vorerst auch nicht zu einer Zahlungsaussetzung kommen.
Jetzt geht es um Schadensbegrenzung nach dem Schlingerkurs um das Gaza-Thema
Mit der relativierenden Formulierung bemühte sich die Behörde um Schadensbegrenzung nach einem 24-stündigen Schlingerkurs auf öffentlicher Bühne. Die Episode als Kommunikationsdesaster der EU zu bezeichnen, wäre noch eine Untertreibung. Beobachter konnten nur den Kopf darüber schütteln, wie die EU es schaffte, einen internen Streit vom Zaun zu brechen, während in Israel Hunderte Menschen von Terroristen ermordet wurden und seit Samstag wieder ein Krieg im Nahen Osten tobt.
Das Brüsseler Theater begann am Montagnachmittag, als Varhelyi auf der Plattform X entgegen früherer Statements aus der Kommission ankündigte, dass man „alle Zahlungen“ an die Palästinenser sofort einstellen werde. Das Problem: Die Entscheidung, ob Hilfsgelder zurückgehalten werden, liegt bei den 27 Mitgliedstaaten. Und darüber wollten deren Außenminister bei ihrem Sondertreffen sprechen. Sie sind sich keineswegs einig – wie so oft in der Außenpolitik.
Kritik an der "individuellen Entscheidung eines einzelnen Kommissars"
Neben Belgien, Luxemburg und Spanien sah etwa Irland „keine legale Grundlage für eine solche individuelle Entscheidung eines einzelnen Kommissars“. Aus den Niederlanden hieß es, man müsse unterscheiden zwischen der Terrororganisation Hamas und unschuldigen Palästinensern. Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell schrieb, die Aussetzung von Zahlungen wäre aus seiner Sicht einer Bestrafung des gesamten palästinensischen Volkes gleichgekommen und hätte den EU-Interessen in der Region geschadet. Und zu guter Letzt meldete sich EU-Ratspräsident Charles Michel zu Wort.
Relevant sind die Diskussionen, weil die EU und ihre Mitgliedstaaten nach Angaben von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen der größte Geldgeber der Palästinenser sind. Im EU-Budget der aktuellen Periode von 2021 bis 2024 waren bis zu 1,177 Milliarden Euro für die Palästinensergebiete vorgesehen. Nun schlägt die Kommission einen schrittweisen Ansatz vor, also erst die Hilfen überprüfen, dann über künftige Zahlungen entscheiden. So wolle man sicherstellen, „dass keinerlei EU-Finanzierung es einer terroristischen Organisation indirekt ermöglicht, Anschläge auf Israel zu verüben“.