Gegen die Energiepolitik, gegen Russland-Sanktionen – rund 10.000 Menschen gehen am Tag der Deutschen Einheit im thüringischen Gera auf die Straße. Mit dabei: Björn Höcke. Der Vorsitzende der AfD-Fraktion ist Galionsfigur für den rechtsextremen Flügel der Partei. Dass der 50-Jährige, der vom Verfassungsschutz beobachtet wird, auf der Kundgebung den großen Auftritt zelebriert, scheint kaum einen der Demonstrantinnen und Demonstranten zu stören. Höcke wird umringt, erhält viel Zuspruch.
Fest steht, dass die AfD wieder Themen hat, die ziehen. Die Angst vor den Folgen des russischen Angriffs auf die Ukraine und einer Energiepolitik, die Deutschland in fatale Abhängigkeiten getrieben hat. Die tiefe Sorge vor den Mondpreisen für Gas und Strom, die aufsteigende Panik, Rechnungen nicht mehr zahlen zu können, den kleinen Laden schließen zu müssen, sozial abzusteigen. Hinzu kommt, dass das Erscheinungsbild der Ampel-Koalition als uneinig, ja konfus wahrgenommen wird.
Der AfD ist die Trendwende gelungen
All das sind Nöte, die der AfD in die Karten spielen. "Die Politik muss alles daran setzen, dass Existenzen in dieser Krise nicht vernichtet werden. Und zwar durch gezielte, punktuelle Hilfe, nicht mit der Gießkanne“, sagt der Politikwissenschaftler Jürgen Falter im Gespräch mit unserer Redaktion. Vor wenigen Monaten noch wurde in den Medien analysiert, warum die AfD kontinuierlich an Zustimmung verliert. Nachdem die Partei bei der Bundestagswahl 2021 gut zwei Prozent verloren und nur knapp über zehn Prozent erreicht hatte, flog sie bei der Landtagswahl in Schleswig-Holstein aus dem Landesparlament. Gleichzeitig machten Querelen und Streitereien Schlagzeilen.
Doch der Partei ist die Trendwende gelungen: Das Meinungsforschungsinstitut Forsa weist für die AfD in ihrer aktuellen Umfrage 14 Prozent aus – so viel wie seit Dezember 2019 nicht mehr. Falter ist sich sicher, dass dies nicht das Ende der Fahnenstange sein muss: "Die Welle kann noch höher werden. Es wird davon abhängen, wie tief die Krise in das Leben der Menschen eingreift. Die AfD dürfte ein Potenzial von 18 bis 20 Prozent haben." In Deutschland liege der Bodensatz harter Rechtsextremer bei unter fünf Prozent. Wenn man weichere Indikatoren heranziehe, seien es 20 Prozent oder sogar etwas mehr, sagt der Parteienforscher. "Bei dieser Gruppe wird die Liebe zur jeweiligen Rechtsaußenpartei – je nach Konjunkturlage – geweckt oder sie erlahmt wieder."
Auch Wähler der CDU und der FDP wandern zur AfD
In der Forsa-Analyse wird deutlich, dass sich der Aufschwung der Partei zwar zu einem großen Teil aus dem Reservoir der Nichtwählerinnen und Nichtwähler speist, die Forsa "eher den unteren Schichten entstammend“ zuordnet. Aber eben nicht nur. Auch Wähler der CDU und der FDP wandern zur AfD – eine Klientel, das mehrheitlich dem Mittelstand zugezählt wird.
Falter hält diese Entwicklung für "besorgniserregend". Er glaube jedoch, dass das Gros dieser AfD-Wähler keine "weltanschaulich gefestigten Überzeugungswähler“ sind. Sie wollten in erster Linie die anderen Parteien ärgern, um einen Politikwechsel zu erreichen. "Diese Leute können die etablierten Parteien wieder zurückgewinnen."
Ende September sorgte eine Insa-Umfrage für Verzückung bei der Rechtsaußenpartei: Das Institut sah die AfD bei seiner Sonntagsfrage mit 27 Prozent im Osten auf Platz eins. Auch wenn Forsa, Allensbach und Co. geringere Werte ermittelten – über 20 Prozent prognostizieren alle Institute der Partei im Osten. In den sogenannten alten Bundesländern sind die Rechtspopulisten deutlich schwächer. Aber auch dort zeigt der Trend nach oben. Für die Wahl in Niedersachsen am Sonntag kann die AfD – je nach Umfrage – mit neun bis elf Prozent rechnen.
In Italien stellt eine rechtsextreme Partei die designierte Premierministerin, in Frankreich hofft der ultrarechte Rassemblement National eines Tages an die Macht zu gelangen. Ist so etwas auch in Deutschland möglich? Falter: "Bei uns hat die Parteienbindung zwar etwas abgenommen, aber sie ist viel stärker als in Italien oder Frankreich. In diesen Ländern hat sich das Parteiensystem komplett, beziehungsweise partiell aufgelöst. Das ist bei uns nicht absehbar." Hinzu komme, dass es – anders als in Italien oder Frankreich – bei uns keine Person gebe, in der sich der Protest kristallisieren könnte. Keine Figuren wie Giorgia Meloni in Italien oder Marine Le Pen in Frankreich. "Hätte die AfD eine Frau wie Sahra Wagenknecht, stünden ihre Wahlchancen viel besser ."