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Analyse: Dem Westen bleibt nichts weiter übrig, als Putin beim Wort nehmen

Analyse

Dem Westen bleibt nichts weiter übrig, als Putin beim Wort nehmen

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    Er ist vielen ein Rätsel: Gerade jetzt fragen sich viele Beobachter, was der russische Präsident Wladimir Putin im Ukraine-Konflikt antreibt.
    Er ist vielen ein Rätsel: Gerade jetzt fragen sich viele Beobachter, was der russische Präsident Wladimir Putin im Ukraine-Konflikt antreibt. Foto: Iranian Presidency, dpa

    Fjodor Lukjanow gilt als einer der besten Kenner der russischen Außenpolitik. Der Politikwissenschaftler hat direkten Zugang zum Kreml und breitet seine Expertise gern auch im Staatsfernsehen aus. In diesen Tagen der wachsenden Spannungen zwischen Russland und dem Westen droht aber selbst einer wie Lukjanow an seiner eigenen Ratlosigkeit zu verzweifeln. Gefragt nach dem Truppenaufmarsch an der Grenze zur Ukraine und den Plänen von Präsident Wladimir Putin muss der 54-Jährige passen. „Die maßgebliche Expertenmeinung, die ich dazu äußern kann, lautet: Wer zum Teufel weiß das schon?“ Mit diesem elementaren Nichtwissen ist Lukjanow nicht allein. Die meisten Analysten in Moskau gehen davon aus, dass selbst engste Berater des Präsidenten nicht sagen könnten, wie ernst es ihm mit einer Invasion in der

    Wie sollen da westliche Regierungen, Geheimdienste und sicherheitspolitische Fachleute mehr wissen? Dennoch behauptet der Sprecher des US-Verteidigungsministeriums, Admiral John Kirby, mit verblüffender Gewissheit, der Kreml folge „demselben Drehbuch“ wie bei der Krim-Annexion 2014. „Wir haben Informationen, dass Russland aktiv daran arbeitet, einen Vorwand für eine Invasion zu schaffen.“ Das mag sein. Oder auch nicht. Der frühere Nato-General Harald Kujat jedenfalls ist vom Gegenteil überzeugt. Es gebe keine Beweise für einen geplanten Angriff. Vielmehr handele es sich bei dem Truppenaufmarsch um „eine Drohkulisse“. Ebenfalls im Deutschlandfunk schätzte kürzlich der Osteuropa-Experte Wilfried Jilge, der auch die Bundesregierung berät, die Wahrscheinlichkeit eines russischen Militärschlags auf „50 zu 50“. Mit anderen Worten: Alles ist offen.

    Blick in eine ungewisse, ja besorgniserregende Zukunft: Ein ukrainischer Soldat in seinem Unterstand in der Region Donezk.
    Blick in eine ungewisse, ja besorgniserregende Zukunft: Ein ukrainischer Soldat in seinem Unterstand in der Region Donezk. Foto: Andry Dubchak, dpa

    Fachleute für internationale Beziehungen wie Johannes Varwick von der Universität Halle-Wittenberg empfehlen zwar immer wieder: „Wir müssen uns in die russische Perspektive hineinversetzen, sonst finden wir keine Lösung.“ Und der amerikanische „Verhandlungsguru“ William Ury, der in den 80er Jahren die Abrüstungsgespräche zwischen US-Präsident Ronald Reagan und Sowjetführer Michail Gorbatschow begleitete, erklärt: „Es genügt nicht, sein Gegenüber zu sezieren wie einen Käfer unter dem Mikroskop. Man muss wissen, wie es sich anfühlt, dieser Käfer zu sein.“ Was aber tun, wenn sich alles nur in Putins Kopf abspielt wie in einer „Blackbox“, einem schwarzen Kasten, dessen Innenleben in lichtlosem Dunkel liegt?

    Merkel war sich nicht sicher, ob Putin "noch Kontakt zur Realität hat"

    Tatsächlich scheint dies im Falle Putins der Fall zu sein. So ist von Angela Merkel die Einschätzung überliefert, sie sei „nicht sicher, ob Putin überhaupt noch Kontakt zur Realität hat“. Gesagt haben soll die damalige Bundeskanzlerin den Satz nach der Krim-Annexion zu US-Präsident Barack Obama. Von dessen Nach-Nachfolger Joe Biden wiederum stammt die Aussage, er habe Putin schon vor Jahren bei einem Treffen in die Augen gesehen und „keine Seele entdeckt“. Faktisch hatte er also gar nichts gesehen.

    Aber auch abseits solcher Sentenzen gehen die Urteile über Putin und seine politische Methodik weit auseinander. Die einen nennen den ehemaligen Geheimdienstchef einen extrem rationalen, eiskalt kalkulierenden Kopfmenschen. Andere glauben, Putin sei vom Zerfall der Sowjetunion und dem Niedergang Russlands in den 90er Jahren schwer traumatisiert und sinne auf Rache am Westen. Daraus ließe sich folgern, dass er sich auch in der aktuellen Ukraine-Krise von Emotionen leiten lässt und im Zweifel spontan entscheidet. So wie er 2014 kurz entschlossen die Krim-Annexion befahl, als sich die Kiewer Maidan-Revolutionäre nicht an die ausgehandelten Kompromisse hielten. Allerdings: Vorbereitung war alles.

    Dass Putin öffentlich durchaus Emotionen transportieren kann, zeigte sich zuletzt bei seiner großen Pressekonferenz zum Jahresende, als er sich mit bitteren, teils auch aggressiven Worten über die Nato-Osterweiterungen beklagte. „Man hat uns betrogen“, urteilte der Präsident. Der Westen habe die russischen Sorgen immer wieder ignoriert. Damit müsse nun Schluss sein: „Wir wollen unsere Sicherheit garantiert bekommen. Punkt.“ Und dann stellte Putin noch eine rhetorische Frage, als wäre er selbst überrascht, dass weltweit so viele Menschen über seine Absichten rätseln: „Was ist denn daran unverständlich?“ Am Ende scheint genau dies der einzig gangbare Weg bei der „Putin-Deutung“ zu sein: Den Präsidenten beim Wort nehmen, ohne allzu viel hineinzuinterpretieren.

    Warum den russischen Präsidenten nicht einfach ernst nehmen?

    So sieht es auch das Konzept der „Blackbox“ vor, das aus der Verhaltensbiologie stammt. Der schwarze Kasten steht dabei für das Gehirn des Menschen, das sich von außen schlicht nicht auslesen lasse. Echte Erkenntnis liefern demnach nur objektiv messbare Taten. In der Wissenschaft ist die Theorie durchaus umstritten. Im Falle der aktuellen Ukraine-Krise hat es aber einen gewissen Charme. Denn offensichtlich ist, dass das Rätselraten über Putins Pläne ins Dunkel führt. Warum also den Präsidenten nicht einfach ernst nehmen? Der Westen könnte zum Beispiel ohne Gesichtsverlust ein mehrjähriges Moratorium für Nato-Osterweiterungen erklären. Im Gegenzug müsste Russland auf jede militärische Intervention in der Ukraine verzichten. Und dann beginnt man mit umfassenden Verhandlungen über eine neue Sicherheitsarchitektur in Europa.

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