1. SPD, CDU und CSU sind Volksparteien ohne Volk
Die Regeln waren eigentlich lange Jahre klar – die beiden Volksparteien hießen Union und SPD, sie teilten sich die Wählerschaft auf. Alle anderen Parteien halfen höchstens als Mehrheitsbeschaffer, waren aber nie in Griffweite der Macht. Als im Jahr 1966 die erste Große Koalition gebildet wurde, kam sie auf 73,6 Prozent der Stimmen. Diesmal wären es gerade einmal 50 Prozent. Das Fundament der einst Großen bröselt schon seit Jahren. Vor allem die Sozialdemokraten mussten eine regelrechte Erosion ihrer Wählerschaft beobachten, während die Union immerhin noch Achtungserfolge erzielen konnte. Doch die dahinterliegenden Probleme wurden weitgehend ignoriert. Mit verheerenden Folgen: So schwach wie bei dieser Wahl allerdings waren CDU/CSU und die Sozialdemokraten noch nie. Die Bindung hat massiv nachgelassen, Parteien wie die Grünen haben es in die Mitte der Gesellschaft geschafft und sind nicht mehr nur für eine kleine Klientel wählbar. Die Wählerinnen und Wähler sind zudem sprunghafter geworden: Eben durch die geringere Bindekraft der Parteien schwankt die Stimmung sehr stark. „Was wir lernen, ist, dass die Integrationskraft der Volksparteien weniger von den Parteien selbst ausgeht, sondern den Personen an der Spitze“, sagt Thorsten Faas, Wahlforscher an der Freien Universität Berlin. „Das führt zwangsläufig zu mehr Dynamik.“
2. Die Grünen haben einen weiten Weg vor sich
War es vermessen, dass die Grünen eine Kanzlerkandidatin aufgestellt haben? Zeigt sich allein darin die Selbstüberschätzung der Partei? Nein – auch im Rückblick war es der richtige Weg, denn er hat es den Grünen ermöglicht, ganz vorne mitzumischen. Annalena Baerbocks Bühne war um einiges größer als die der anderen Oppositionsparteien. Sie schaffte es nicht nur auf die Titelseiten von Stern und Spiegel, sondern konnte ihre Positionen auch in den Triellen der Kanzlerkandidaten ausführlich darlegen. Sendezeit ist eine der wichtigsten Währungen in einem Wahlkampf – hinzu kommt, dass sich dadurch der Blick auf die Partei verändert hat: Auch wenn es nur für einen kurzen Zeitraum war, doch Deutschland hat sich mit dem Gedanken befasst, eine grüne Kanzlerin haben zu können. Allerdings mussten die Grünen auch lernen, dass nur mit Begeisterung keine Wahlen zu gewinnen sind. „Gute Umfragewerte, eine gute Kampagne, beste Aussichten für die erste Kandidatin – aber letztlich haben die Kandidatin und die Kampagne nicht einlösen können, was als Erwartung da war“, sagt Wahlforscher Faas. Das Team machte handwerkliche Fehler. Und es hatte mit Baerbock im Rückblick vielleicht doch auf eine Kandidatin gesetzt, die zwar für einen Aufbruch stand, aber deren politisches Standing in der Bevölkerung geringer ist als das von Robert Habeck, der immerhin schon einmal ein Ministeramt innehatte.
3. Die SPD kann es doch noch
Als die Sozialdemokraten ihren Kanzlerkandidaten ernannten, dümpelte die Partei bei 15 Prozent. Der Einzige, der an einen Sieg glaubte – oder zumindest so tat –, war Olaf Scholz selbst. Noch wenige Monate vorher hatte ausgerechnet der heutige Co-Parteichef Norbert Walter-Borjans in einem Interview gesagt: „Ich würde erst mal dafür werben, dass wir einen Spitzenkandidaten aufstellen.“ Er glaube nicht, „dass wir im Augenblick an dieser Stelle wären, einen Kanzlerkandidaten aufzustellen“. Die Bedenken waren damals durchaus nachvollziehbar. Die Sozialdemokraten quälten sich selbst mit der Suche nach der eigenen Führung, lieferten sich erschöpfende Kämpfe über die Ausrichtung – nicht wenigen Mitgliedern vor allem des linken Flügels wäre es lieber gewesen, die SPD ginge in die Opposition, um dort keine Kompromisse mehr eingehen zu müssen. Aus heutiger Sicht wäre das ein kapitaler Fehler gewesen. Olaf Scholz kommt auch deshalb so gut bei vielen Wählern an, weil er Staatsräson statt Ideologie ausstrahlt. Als Finanzminister konnte er in der Corona-Krise maßgeblich mitgestalten. Doch das Wichtigste: Die SPD lernte, dass offen ausgetragener Streit (siehe Union) beim Wähler nicht ankommt. Am Ende profitierte die Partei aber auch von der Schwäche der politischen Konkurrenz. Ein Niedergang der Sozialdemokratie, wie er in anderen europäischen Ländern zu beobachten ist, ist in Deutschland allerdings trotz aller Rückschläge in den vergangenen Jahren abgewendet. „Die SPD war über viele Jahre für viele Menschen die beste zweite Wahl“, sagt Wahlforscher Thorsten Faas. „Will heißen: Trotz miserabler Werte blieb die Partei eine wählbare Alternative. Und jetzt im Moment der Schwäche der anderen waren die SPD und Scholz da.“
4. In der AfD gärt es
Im Wahlkampf hat die AfD höchstens eine Nebenrolle gespielt. Anders war das noch im Jahr 2017 – damals zog die Partei zum ersten Mal in den Bundestag ein und war regelrecht beflügelt. Allerdings hat die Partei deutlich an Stimmen verloren. In der ablaufenden Legislaturperiode war die AfD die stärkste Oppositionspartei, das hat sie diesmal nicht mehr geschafft. In vielen Wählerschichten hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass die AfD in weiten Teilen rechtsradikal ist. Auch von der Querdenker-Bewegung konnte die Partei nur wenig profitieren. Jenseits der Migrationsdebatte hat die AfD kein Thema mehr gefunden, mit dem sie wirklich die Massen mobilisieren kann. Trotzdem wird auch mit dieser Wahl klar: Die AfD bleibt. Vor allem im Osten kann sie viele Anhänger hinter sich versammeln. Und das könnte Folgen für die Partei haben. Denn im Osten ist der rechte Flügel besonders stark, dessen Vertreter dürften sich in ihrem Kurs bestärkt fühlen und damit die Spaltung der Partei noch weiter vorantreiben. Schon in den vergangenen Monaten hatten die gemäßigten Kräfte immer mehr Mühe durchzudringen.
5. Der Union stehen harte Zeiten bevor
Selbst im Wahlkampf konnte die Union das Brodeln nicht unterdrücken. Nun fährt sie ihr schlechtestes Ergebnis ein. Das bedeutet, dass eine Vielzahl von Abgeordneten, die ihre politische Karriere quasi für unzerstörbar hielten, ihr Mandat verlieren, aus dem Bundestag fliegen. Die Wut darüber wird sich ihren Weg suchen – wenn auch nicht gleich. „Uns steht ein langer Weg zur Regierungsbildung bevor, es werden lange Wochen“, sagt Wahlforscher Faas. „Das wird in allen Parteien disziplinierend wirken. Trotzdem ist es natürlich ein historischer Einbruch für die Union.“ Solange die Union noch eine Chance hat, den Kanzler zu stellen, wird sie versuchen müssen, Geschlossenheit zu demonstrieren. Doch sollte diese Möglichkeit verstreichen, wird es zuerst für Armin Laschet ungemütlich. Er dürfte dann nicht nur den Parteivorsitz verlieren, sondern womöglich auch als Ministerpräsident in Nordrhein-Westfalen angezählt sein. Dort finden im kommenden Jahr Landtagswahlen statt, schwer vorstellbar, wie die CDU mit einem Kandidaten mobilisieren will, dem das Image des Verlierers anhaftet. Und noch eine schlechte Nachricht für die Union: Sie verlor bei dieser Wahl ihre Bastion – die Wählerinnen und Wähler über 60. Das ist für alle Parteien eine hochrelevante Gruppe, da sie treu ist und zur Wahl geht. Laut Forschungsgruppe Wahlen haben 35 Prozent der über 60-Jährigen für die SPD gestimmt (plus 11 Prozent) und 34 Prozent für die Union (minus sieben Prozent).
6. Die Regierungsbildung wird schwer wie nie
Diese 20. Bundestagswahl markiert eine Zäsur – zum ersten Mal könnte die Bundesregierung aus drei Parteien bestehen (wenn man CDU und CSU als Parteienfamilie zusammenzählt). Einzig denkbares Zweierbündnis wäre eine erneute Große Koalition, doch das wollen weder die Union noch die SPD. Es ist in der Tat schwer vorstellbar, dass die Union unter einem Kanzler Olaf Scholz in die Regierung geht, umgekehrt wird sich die SPD das Kanzleramt nicht von der Union wegnehmen lassen. Es dürfte also auf die Grünen und auf die FDP ankommen. Die FDP hat bereits in den vergangenen Tagen erkennen lassen, dass sie im Zweifel auch flexibel sein kann – auch, wenn ihr ein Bündnis mit der Union sicher lieber wäre. Doch eine Machtoption dürfte sich der liberale Parteichef Christian Lindner nicht noch einmal entgehen lassen. Der Spruch „Lieber nicht regieren als schlecht regieren“ hing ihm lange an und untergrub seine Autorität massiv. Auch die Grünen sind zum Pragmatismus gezwungen. Nachdem sie im Wahlkampf sogar nach dem Kanzleramt gegriffen hatten, wollen sie nun zumindest über die Ministerien in die erste Reihe einziehen. Es wird also darauf ankommen, wer seinen möglichen Koalitionspartnern mehr bieten kann – Union oder SPD.