Die größten Grausamkeiten, das lehrt die ungeschriebene Gebrauchsanweisung der Politik, begeht eine neue Regierung am besten sofort – weil sie dann am nächsten Wahltag im Idealfall schon wieder vergessen sind. FDP-Chef Christian Lindner fackelt deshalb nicht lange. Nur wenige Tage nach seiner Vereidigung hat der neue Finanzminister bereits einen sogenannten Nachtragshaushalt auf den Weg gebracht, mit dem die Ampel-Koalition ihren finanziellen Spielraum um 60 Milliarden Euro erweitert. Damit macht die FDP in der Regierung genau das, was sie der früheren Bundesregierung noch angekreidet hat: Schulden auf Vorrat.
Sogar für eine Impfpflicht kann sich die FDP erwärmen
Natürlich gibt es gute Gründe, gerade in schwierigen Zeiten kräftig zu investieren. Keine andere der drei Ampel-Parteien allerdings ist so unsanft in der politischen Realität gelandet wie die FDP. Ausgerechnet die Partei, die solide Staatsfinanzen zum ersten Regierungsziel erklärt hat, muss zu einem Buchungstrick greifen und die neuen Milliardenschulden in Schatten- und Nebenhaushalte auslagern. Und ausgerechnet die Partei, die im Wahlkampf die Freiheit des Einzelnen gegen das staatliche Corona-Regime verteidigte, schärft das neue Infektionsschutzgesetz mehrfach mit nach und redet neuerdings sogar einer allgemeinen Impfpflicht das Wort. Dass die Klage einiger liberaler Abgeordneter gegen die Bundesnotbremse mit ihren Kontakt- und Ausgangssperren aus dem Frühjahr vor dem Bundesverfassungsgericht gescheitert ist, ist dabei nur das berühmte Tüpfelchen auf dem i. Wunsch und Wirklichkeit, so scheint es, klaffen in der FDP gerade besonders weit auseinander.
Beispiel Haushalt. Im vergangenen Jahr hat der liberale Finanzexperte Christian Dürr der Großen Koalition noch vorgeworfen, sie begehe einen Verfassungsbruch, wenn sie sich höher verschulde, als es wegen der Pandemie nötig sei. Heute ist Dürr Fraktionsvorsitzender der Regierungspartei FDP, und der neue Finanzminister Lindner tut genau das: Mit ihm verschuldet sich der Bund höher, als es im Moment erforderlich wäre, und widmet die Corona-Rücklagen noch dazu in eine Art Öko-Fonds um, mit dessen Hilfe die Grünen den klimaneutralen Umbau des Landes vorantreiben können.
Beispiel Impfpflicht: Dass der Staat einem Menschen nicht vorschreiben kann, sich impfen zu lassen, war bisher ein liberales Credo. Heute sagt der Parteichef: „Die Impfpflicht ist ein scharfes Schwert, aber ich glaube, sie ist verhältnismäßig.“ Dabei hatte die Partei noch in ihrem Wahlprogramm behauptet, sie respektiere die persönliche Entscheidung jedes Einzelnen.
Nicht jeder Liberale wurde, was er werden wollte
Weite Teile der Bundestagsfraktion argumentieren inzwischen wie Lindner, darunter auch der Allgäuer Abgeordnete Stephan Thomae. „Der Anteil der Menschen, die sich freiwillig impfen und boostern lassen, ist leider nicht so hoch wie erhofft“, sagt er. „Das Auftreten der Omikron-Variante ändert die Lage drastisch.“ Zwischen einer bereichsbezogenen Impfpflicht, etwa der für Gesundheitsberufe, und einer allgemeinen Impfpflicht sehe er allerdings noch viele Zwischenstufen, sagt Thomae. Etwas kritischer klingt der Vorsitzende der Südwest-FDP, Michael Theurer: Gegen eine gesetzliche Regelung, mit der Menschen gegen ihren Willen geimpft werden, „bestehen erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken.“ Impfverweigerer „nur“ mit einem Bußgeld zu bestrafen, wie es bislang geplant ist, möge aus juristischer Sicht vielleicht noch verhältnismäßig sein, sagt Theurer. „Allerdings bin ich skeptisch, ob dadurch das Ziel einer höheren Impfquote wirklich erreicht wird.“
Theurer gehört zu den Liberalen, die nicht das geworden sind, was sie gerne geworden wären – nämlich Minister. Dafür wurde ein Mann, wie der Lindner-Vertraute Marco Buschmann neuer Justizminister, der in der Fraktion in der vergangenen Legislatur wegen seines schneidigen Führungsstils gefürchtet war und auch bei seinen öffentlichen Auftritten nicht unbedingt Sympathiepunkte für die Partei sammelt. „Reißen Sie sich am Riemen“ fuhr er vor kurzem in einer Talkshow den sächsischen Ministerpräsidenten Michael Kretschmer an, nachdem der mehr Unterstützung des Bundes im Kampf gegen Rechts eingefordert hatte. Da habe sich das unsympathische Gesicht der FDP gezeigt, klagte ein Liberaler mit Einfluss anschließend. Die sonst so zurückhaltende Frankfurter Allgemeine beschrieb Buschmann gar als „Oppositionspolitiker, der offenbar Probleme hat, in der Bundesregierung anzukommen, ohne dass ihm dieser Wechsel zu Kopfe steigt.“