Kann es sich ein Staat leisten, rund die Hälfte der Bevölkerung weitgehend aus Bildungseinrichtungen auszuschließen und ihre Teilhabe am öffentlichen Leben stark zu beschränken? Natürlich nicht. Ultrareligiöse Taliban-Politiker in Afghanistan verfolgen dieses Ziel dennoch: Radikale Islamisten hatten Mädchen den Schulbesuch nur noch bis zur sechsten Klasse erlaubt und Frauen von den Universitäten des krisengeschüttelten Landes verbannt. Am Samstag folgte der zweite Schlag. Nun wurde angeordnet, dass Nichtregierungsorganisationen (NGOs) keine Mitarbeiterinnen mehr einsetzen dürfen, da es Verstöße gegen muslimische Kleidungsvorschriften gegeben habe. Maßnahmen, die an die rücksichtlose, brutale Politik der Taliban während ihrer ersten Herrschaft von 1996 bis 2001 erinnern.
Der Ausschluss von Mitarbeiterinnen der NGOs hätte katastrophale Auswirkungen
Eine rigorose Umsetzung dieser Anordnungen hätte katastrophale Folgen für das Land – zumal mehrere Hilfsorganisationen ankündigten, ihr Engagement auszusetzen, wenn Frauen in ihren Reihen suspendiert werden müssten. Das Problem liegt auf der Hand: Nur Mitarbeiterinnen können Frauen und Mädchen helfen. Männlichen Kräften wird von den meisten Familien – gerade auf dem Land – der Kontakt zu Ehefrauen, Schwestern oder Töchtern verweigert. „Wenn die Hilfsorganisationen in der ohnehin schon wirtschaftlich chaotischen Situation dauerhaft ihre Arbeit einstellen, droht eine humanitäre Katastrophe“, sagt der Leiter der Kinderhilfe Afghanistan, Reinhard Erös, unserer Redaktion. Die von Erös gegründete Organisation betreibt im Osten des Landes Schulen, eine Universität in Nangarhar und medizinische Ausbildungseinrichtungen.
Aktuelle Meldungen belegen, dass die jüngsten Einschränkungen auch unter den Taliban, die seit dem überstürzten Abzug einer militärischen Allianz unter Führung der USA im August 2021 an der Macht sind, umstritten sind. Die ARD zitiert aus einem vertraulichen Gesprächsprotokoll: Danach erklärte Taliban-Wirtschaftsminister Hanif in einem Treffen mit Ramis Alakbarow, UN-Koordinator für die Afghanistan-Hilfe, dass das Arbeitsverbot ausdrücklich nicht für den medizinischen Sektor und nicht für die UN gelte. Laut des Protokolls habe Hanif auch zugesagt, sich dafür einzusetzen, dass Frauen weiterhin für die NGOs tätig sein können. Der UN-Sicherheitsrat hatte die Taliban aufgefordert, alle Bildungsverbote aufzuheben und eine „Aushöhlung der Menschen- und Freiheitsrechte“ durch die Frauenpolitik der Machthaber kritisiert.
Die Taliban sind eine heterogene Gruppe
Der Mitbegründer der unabhängigen Denkfabrik Afghanistan Analysts Network, Thomas Ruttig, verfügt über Informationen, dass das Gesundheitsministerium zuvor bereits mitgeteilt hat, „dass medizinisches Personal nicht von den Verboten betroffen sei, Frauen also weiterarbeiten könnten." Zwar will Ruttig nicht von einem offenen Machtkampf bei den Taliban sprechen. Aber: „Es gibt einen Kern von ultrakonservativen Taliban um den obersten geistlichen Führer im Land, Emir Achundsada, der die Verbote erlassen hat. Sie geben die Positionen vor, und die Pragmatischeren haben bisher kaum öffentlich Kritik geäußert. Sie müssen jetzt aktiv werden. Allerdings könnten sie sich damit in Lebensgefahr bringen“, sagt Ruttig, der lange in Afghanistan gearbeitet hat, im Gespräch mit unserer Redaktion.
Erös ist sich sicher, dass die besser gebildeten Minister unter den Taliban „gegen die Verbote sind“. Zu dieser Gruppe zählt er Gesundheitsminister Ibad, Verteidigungsminister Jakub oder Außenminister Muttaki, die in Kabul arbeiten. „Sie sind pragmatischer als die radikale Gruppe um den Emir Achundsada in Kandahar.“
Die Zeit drängt. „In Afghanistan haben wir jetzt einen Wintereinbruch, es droht erneut eine Hungersnot, die im Winter 2020/21 nur durch massive Unterstützung von Hilfsorganisationen verhindert werden konnte“, warnt Ruttig. Erös hofft, dass die Gruppe um Achundsada, die auch in der islamischen Welt völlig isoliert sei, nicht den „Tod von Hunderttausenden für ihre religiösen Dogmen in Kauf nimmt“.
Nach dem Wintereinbruch droht erneut eine Hungersnot
Unklar ist, wie es mit den Bildungseinschränkungen an Schulen und Universitäten weitergeht. „Die Ablehnung der restriktiven Politik der Taliban in der Bevölkerung ist potenziell sehr groß. Doch nur die Mutigsten wagen es, zu protestieren“, erklärt Ruttig. In Kandahar seien demonstrierende Studenten „brutal zusammengeknüppelt worden.“
Erös, der die Projekte der Kinderhilfe vor Ort mit aufgebaut hat, warnt vor den Folgen einer Politik, die Frauen ausschließt: „Wenn Mädchen nicht Abitur machen dürfen, können sie auch nicht mehr studieren und Ärztinnen werden. Wer soll dann kranke Mädchen oder Frauen behandeln? Dass sie zu männlichen Ärzten gehen, ist in Afghanistan undenkbar. Das zeigt schon, wie sinnlos das Verbot ist.“
Allerdings würden die Anordnungen nicht in allen der 34 Provinzen des sehr föderalistisch organisierten Landes mit seinen verschiedenen Ethnien greifen. In sechs bis sieben Provinzen seien die Beschränkungen nicht durchgesetzt worden. In den paschtunisch dominierten Regionen – die Taliban sind Paschtunen – dürften die Mädchen die Schule tatsächlich nur noch bis zur sechsten Klasse besuchen und nicht mehr in die Unis. Erös: „Das gilt auch für unsere Schulen. Wir haben aber erreicht, dass junge Frauen an unserer Universität in Nangarhar weiter studieren können. Auch die Ausbildung von Hebammen und Krankenschwestern geht weiter.“
Experten halten einen Stopp der Hilfsgelder aus Deutschland für falsch
Mit Unverständnis reagieren Thomas Ruttig und Reinhard Erös auf die Ankündigung von Entwicklungsministerin Svenja Schulze (SPD), die Hilfe für das Land angesichts der Einschränkungen für Frauen bei den NGOs infrage zu stellen. „Das würde dem humanitären Imperativ widersprechen. Auch in Ländern, die diktatorisch regiert werden, muss Hilfe geleistet werden, wenn eine humanitäre Katastrophe droht“, sagt Ruttig. Erös nennt eine Einstellung der Hilfen einen „schweren Fehler – humanitär und politisch“. Wichtig sei vielmehr, dass Deutschland endlich wieder seine Botschaft in Kabul öffne. Dann gebe es einen Ansprechpartner. "Nur noch China, Russland und Pakistan haben Botschafter hier, der Westen ist diplomatisch gar nicht mehr präsent.“