„Ich verstehe nicht, was hier vor sich geht“, sagt Alexej Nawalny, schaut schräg in die Kamera, neben ihm ist die russische Trikolore zu sehen, ein abgewetzter Lino- leumboden. Es ist ein Video, das seine Anwältin in den Umlauf bringt. Auch sie versteht nicht, was im Polizeirevier Nummer zwei von Chimki, einem Moskauer Vorort, passiert. Klar ist nur: Hier wird die Haft für den 44-jährigen Kremlkritiker verhandelt. Am späten Nachmittag spricht die Richterin ihr Urteil: 30 Tage Arrest. „Ich rufe euch alle auf, auf die Straße zu gehen und keine Angst zu haben“, sagt Nawalny direkt nach der Verhandlung. Über einen russischen Rechtsstaat zu reden, sei nach diesem Tag „vollkommen sinnlos“, sagen gleich mehrere russische Juristen.
Nach seiner Rückkehr aus Berlin in die Heimat am Tag zuvor war der Oppositionspolitiker direkt an der Passkontrolle von Beamten abgeführt worden. 24 Stunden lang wusste weder sein Rechtsbeistand noch seine Familie, wo sich Nawalny aufhält. Telefonieren durfte er nicht, obwohl die russische Strafprozessordnung Festgenommenen das Recht auf ein Telefonat einräumt. Doch um die Rechtsordnung geht es dem russischen Staat im Fall Nawalny offenbar nicht. Noch nicht einmal der Schein eines rechtsstaatlichen Verfahrens wird gewahrt.
Die Festnahme erfolgte im "Niemandsland" noch vor der Einreise
Nawalnys Festnahme erfolgte im „Niemandsland“; der Moskauer war noch nicht nach Russland eingereist, Anwälte ließ man bis kurz vor der „Verhandlung“ im Polizeigebäude nicht zu ihm. Die Sitzung begann, ohne dass weder der Angeklagte noch seine Anwältin wussten, um welches Vergehen es sich dabei eigentlich handelt. Es gibt zwar den Vorwurf, er habe gegen Bewährungsauflagen in einem früheren Fall verstoßen. Doch eigentlich sollte erst am 29. Januar entschieden werden, ob seine bedingte Strafe zu einer realen umgewandelt wird. Nun dürfte er danach weiter in Haft bleiben. Selbst für russische Verhältnisse ist diese Justiz-Farce beispiellos. Auf die Meinung aus dem Ausland gibt Russland seit langem nichts mehr. Außenminister Sergej Lawrow bezeichnete die Empörung Deutschlands, der EU und der USA über die Festnahme Nawalnys bei seiner Pressekonferenz am Montag als „Ablenkungsmanöver ihrer eigenen Liberalismus-Krise“.
Nawalny ist längst weltweit bekannt
Lange Zeit verfolgte das russische Regime gegenüber Nawalny eine Zermürbungstaktik. Die Behörden schikanierten ihn und seine Unterstützer, brachten Anhänger vor Gericht, ließen Nawalny aber auf freiem Fuß – um ihm keinen Märtyrerstatus zu verleihen. Der Mordversuch mit dem verbotenen Nervengift aus der Nowitschok-Gruppe auf ihn hob den Antikorruptionskämpfer auf ein neues Level: Nawalny wurde zu einem weltweit bekannten Politiker. Unfreiwillig machte ihn der Staat, der ihn bekämpft, selbst zu einer Alternative in diesem Staat. Ein „Niemand“, zu dem ihn der Kreml mit etlichen „Spezialoperationen“ zu machen versucht, ist Nawalny schon lange nicht mehr. Für einen Niemand müssten weder Flüge umgeleitet werden noch die halbe Stadt abgesperrt werden. Der Stabilität, die das Putin’sche System propagiert, ist sich dieses System nicht sicher. Nawalny darf keine politischen Ämter übernehmen, er hat keine registrierte Partei, seine Zustimmungswerte waren zuletzt noch gefallen. Aber: Nawalny ist ein Symbol. Dafür, dass die grassierende Unzufriedenheit der Menschen im Land sich irgendwann einmal entladen könnte. Auf diese Unzufriedenheit antwortet der Kreml nur noch mit dem Vorschlaghammer. Nawalny ist deshalb eine Gefahr fürs System Putin, weil er dennoch keine Angst zeigt.
Das Risiko, erneut seine Freiheit zu verlieren, ist Putins Gegner Nummer eins bewusst eingegangen. Der Staat hatte mit Drohungen alles daran gesetzt, ihn von seiner Rückkehr abzuhalten. Aus dem Ausland aber auf die Probleme in Russland Einfluss zu nehmen – das zeigen Fälle wie Michail Chodorkowski und Garri Kasparow – ist kaum möglich. Nawalny hat sich für den Kampf im Innern entschieden.
Das wird nicht nur schwierig, weil er diesen Kampf zunächst wohl hinter Gittern führen muss. Hinzu kommt, dass er durch sein bisweilen arrogantes Auftreten und die fehlende Bereitschaft, Kompromisse einzugehen, nicht nur Gleichgesinnte verprellt hat; es ist ihm auch nie gelungen, zu einer wenigstens moralischen Führungsperson der Zivilgesellschaft zu werden. Die jüngsten Ereignisse könnten allerdings einen Politisierungsprozess in der russischen Gesellschaft in Gang setzen. Derzeit wird auch darüber spekuliert, dass seine Frau Julia in seine Fußstapfen treten könnte – als eine Art russische Swetlana Tichanowskaja. Die Belarussin ging erst als Reaktion auf die Verhaftung ihres Mannes Sergei – eines Kandidaten bei der belarussischen Präsidentenwahl – in die Politik. Julia Nawalnaja schrieb am Montag bei Instagram: „Wir werden auch damit fertig, Ljoscha [eine liebevolle Abkürzung für Alexej]. Es wird auf jeden Fall alles gut.“ Doch derzeit macht die Corona-Pandemie nicht einmal mehr Versammlungen möglich. Gleichgültigkeit und politische Apathie sind weitverbreitet. „Es fehlt ein großes Projekt, wie Jelzin das war“, sagt der Politologe Andrej Kolesnikow vom Moskauer Carnegie-Zentrum.
Die Festnahme Nawalnys zeigt erneut, dass der Staat in seiner Machtversessenheit keine Grenzen mehr zu kennen scheint – egal, wie menschenverachtend, rechtsverletzend und absurd seine Restriktionen sind. Die Frage ist, ob die Gesellschaft diesen Kurs hinnimmt. Gerade in diesem Jahr, in dem das Parlament gewählt wird.
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