Christian Lindner wird sich in diesen Tagen die politischen Ereignisse vor 42 Jahren noch einmal genau anschauen. Es war der 9. September 1982, als Bundeswirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff das „Konzept für eine Politik zur Überwindung der Wachstumsschwäche und zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit“ vorlegte. Der FDP-Politiker warb damals offensiv für die Priorisierung marktwirtschaftlicher Prinzipien, es war der Anfang vom Ende der Regierungskoalition aus SPD und Liberalen. Lambsdorffs Vorstoß ging als „Scheidungspapier“ in die Geschichte ein, und die könnte sich gerade wiederholen. Auch Lindner überlegt, ob er sich vom Ampelbündnis trennt.
Die Parallelen zu damals sind unübersehbar: Im Haushalt klaffen tiefe Löcher, das Wachstum schwächelt. SPD und FDP stehen beim Wahlvolk schlecht da. Am Koalitionsbruch aktiv beteiligt war der damalige Außenminister Hans-Dietrich Genscher. „Ein Bundeskanzler, der die Partei nicht mehr hinter sich hat, kann am Ende auch die Politik nicht mehr durchsetzen, die er selbst für richtig hält“, urteilte er über den Zustand der von Helmut Schmidt (SPD) geführten Regierung. Es ist ein Satz, den Lindner so auch über Kanzler Olaf Scholz sagen könnte.
FDP-Politiker wütend auf Baerbock und Habeck
Heute hat es die FDP darüber hinaus noch mit den Grünen zu tun. Wenn sich die Liberalen über die SPD schon aufregen, dann treiben die Grünen sie fast in den Wahnsinn. Die unterschiedliche politische Sozialisation offenbart sich unter anderem am Streit über die Kindergrundsicherung. Es geht dabei keineswegs nur ums Geld, sondern um Überzeugungen. Ein Blick in die Grundsatzprogramme der beiden Parteien ist hilfreich. „Kinder … haben eigene Rechte. Diese gehören in den Mittelpunkt von Politik und Gesellschaft und sind im Grundgesetz eigenständig zu garantieren“, heißt es bei den Grünen. Die FDP erklärt: „In der Verantwortung für ihre Kinder sehen Liberale zunächst die Eltern und erst dann Staat und Gesellschaft.“
Es ist nicht das einzige Thema, bei dem die FDP inzwischen kaum mehr Rücksicht nimmt auf die Koalitionspartner. In Brüssel wollten die Liberalen das Lieferkettengesetz blockieren – ein Vorhaben, das unter anderem von SPD-Minister Hubertus Heil vorangetrieben wurde. Auch beim Verbrennerverbot stellte sich die FDP quer – zum Ärger der Grünen. In Berlin stichelt Lindner gerade gegen das Bürgergeld, bei der Rente verlangt die Partei Nachbesserungen.
Kommt die Sprache auf den grünen Wirtschaftsminister Robert Habeck, laufen nicht wenige FDPler rot an. Der Vizekanzler habe seinen Laden nicht im Griff, die Wirtschaftspolitik sei ein Desaster, heißt es. Noch aggressiver ist der Ton, wenn es um Außenministerin Annalena Baerbock geht. Das Reisepensum der Grünen-Politikerin wird als Sightseeing belächelt, dass Baerbock die Visavergabe für ausländische Fachkräfte nicht geregelt bekommt, lässt liberale Spitzenkräfte richtiggehend wütend werden.
Christian Lindner vor FDP-Parteitag unter Druck
Lindner muss sich in diesem Minenfeld bewegen. Einerseits darf die Kommunikation zu den Koalitionspartnern nicht abreißen. Er liefe Gefahr, den anderen ins offene Messer zu laufen. Auf der anderen Seite muss der Chef seine Partei bei Laune halten. In der jüngsten Forsa-Umfrage steht die FDP bei vier Prozent, was an sich schon ein mieser Wert ist. Das gerade erst gegründete Bündnis Sahra Wagenknecht liegt, was für eine Schmach, einen Punkt besser.
Die Zeit arbeitet gegen Lindner, das setzt ihn weiter unter Druck. Nach der letzten Bundestagswahl und einem Ergebnis von 11,5 Prozent freuten sich die Mitglieder zunächst über einen Umfrage-Boom. Bis auf 16 Prozent schossen die Werte hoch. Doch bereits im Frühjahr 2022 setzte die Ebbe ein und der Parteivorsitzende steht zusehends auf dem Trockenen. Für die Europawahl sieht es nicht gut aus, für die Landtagswahlen im Herbst gar zappenduster. Sein Vorgänger Philipp Rösler gab 2013 den Parteivorsitz ab, nachdem die FDP aus dem Bundestag geflogen war. Geschichte könnte sich auch hier wiederholen. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis Lindner offen mit dem Ansehensverlust in Verbindung gebracht wird. Ende des Monats könnte es beim Parteitag in Berlin bereits so weit sein.
FDP könnte aus der Ampel-Koalition ausscheren
Die laufenden Haushaltsverhandlungen sind kein Anlass für Lindner, den Koalitionsvertrag aufzukündigen. Im Gegenteil: Das Finanzministerium gilt nicht umsonst als Schlüsselministerium, wer hier Minister ist, hat Macht über das gesamte Kabinett. Wolfgang Schäuble war ein Paradebeispiel dafür, wie ein Ressortchef mit dem Griff am Geldhahn die anderen fast nach Belieben lenkte und Vorteile für die eigenen Leute herausholte.
Lindner braucht keinen konkreten Anlass, das hat er im November 2017 gezeigt. Nach wochenlangen Treffen ließ er die Sondierungsgespräche mit Grünen und Union überraschend platzen. „Es ist besser, nicht zu regieren, als falsch zu regieren.“ Mehr als dieser Satz wäre auch heute nicht nötig, um sich von der Ampel zu trennen – und sich, wie die Liberalen vor 42 Jahren, der Union zuzuwenden.