Erst das Land, dann die Partei: Kaum ein Politiker, der diesen Satz nicht irgendwann schon einmal bemüht hätte. Auch Olaf Scholz argumentierte auf dem Höhepunkt der Ampel-Apokalypse am späten Mittwochabend so. Um Schaden vom Land abzuwenden, habe er Finanzminister Christian Lindner entlassen müssen, sagte der Kanzler da. Warum er selbst in einer Situation, in der die Vereinigten Staaten einen neuen, in Europa äußerst skeptisch beäugten Präsidenten bekommen, die EU-Kommission sich neu sortiert und die deutsche Wirtschaft an Krücken geht, noch bis Ende März im Amt bleiben will, konnte er in seiner Generalabrechnung mit Christian Lindner allerdings nicht wirklich begründen. Das mehrmonatige Interregnum mit einer rot-grünen Minderheitsregierung, das Deutschland jetzt droht, nutzt vielleicht den beiden an ihr beteiligten Parteien, die etwas mehr Zeit bekommen, sich auf den nächsten Bundestagswahlkampf vorzubereiten – dem Land aber schadet es, weil es bis zur Neuwahl faktisch still stehen wird.
Erst das Land, dann die Partei: Das gilt nun auch für die Union und ihren Kanzlerkandidaten. Friedrich Merz bietet sich die einmalige Chance, schon in wenigen Monaten selbst Kanzler zu werden. Er wird nicht über jeden Stock springen, den Scholz ihm jetzt hinhält, wenn der Kanzler in den kommenden Wochen für Gesetzesvorhaben wie das Rentenpaket oder Karl Lauterbachs Krankenhausreform neue Mehrheiten im Bundestag sucht. Umgekehrt aber darf Merz auch nicht den Eindruck entstehen lassen, er betreibe jetzt eine Art Fundamentalopposition, um der Rest-Ampel einen letzten, tödlichen Stoß zu versetzen. Der für Anfang 2025 geplanten Entschärfung der Steuerprogression, zum Beispiel, kann die Union durchaus zustimmen – sie nutzt Millionen von Beschäftigten und ist kompatibel mit dem Kurs von Merz, der ab sofort daran gemessen wird, wie er selbst als Kanzler agieren würde. Faktisch ist er seit Mittwochabend auch schon mehr als „nur“ Oppositionsführer. Die Union kann jetzt, zumindest partiell, mitregieren.
Regiert die SPD auch in einer neuen Koalition wieder mit?
Trotzdem braucht Deutschland möglichst rasch wieder stabile Verhältnisse – nach innen wie nach außen. Nach innen, weil im Ampel-Chaos der vergangenen Monate vieles liegen geblieben ist, allen voran eine aktive Wirtschaftspolitik. Und nach außen, weil die Welt nicht darauf wartet, bis das wichtigste Land in Europa eine neue Regierung gefunden hat. Die Kriege in der Ukraine und im Nahen Osten, die Unsicherheiten, wie sich das transatlantische Verhältnis unter Donald Trump entwickeln und Deutschland möglicherweise zu deutlich höheren Ukraine-Hilfen zwingen wird, dazu der anhaltende Migrationsdruck und die Fliehkräfte in der Europäischen Union: Wer in dieser Situation, wie Scholz, ohne eigene Gestaltungsmehrheit im Parlament auf Zeit spielt, verhöhnt nicht nur den Souverän, den Wähler. Er führt auch den in diesen Tagen häufig gebrauchten Begriff von der staatspolitischen Verantwortung ad absurdum. Vulgo: Erst das Land, dann die Partei.
Es wäre ein Leichtes für Olaf Scholz, die Vertrauensfrage im Bundestag schon in der kommenden Woche zu stellen. Deutschland hätte dann bereits gewählt, bevor Donald Trump sein Amt antritt. Eine neue Koalition, der die SPD ja durchaus wieder angehören kann, könnte rasch einen neuen Haushalt verabschieden und wäre bereits in den ersten Monaten des neuen Jahres wieder im Arbeitsmodus. Scholz aber mutet dem Land eine Hängepartie zu, die so überflüssig ist wie der berühmte Kropf und schmälert damit seine ohnehin geringen Chancen, das Kanzleramt zu verteidigen, noch weiter. Deutschland brauche stabile Mehrheiten und eine handlungsfähige Regierung, hat Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier nach dem spektakulären Ampel-Aus gemahnt. Beidem steht im Moment nur einer im Weg – Olaf Scholz.
Deutschland braucht jetzt bis zum Ende des Jahres die notwendigen Entscheidungen und nicht den Beginn des Wahlkampfs. Ob Deutschland bis dahin eine stabile Regierung hat, liegt allein in der Hand von Friedrich Merz. Er will nach den Neuwahlen ohnehin mit der SPD eine große Koalition bilden. Da kann er doch jetzt schon zeigen, dass er mit der SPD gut zusammenarbeiten kann. Erzwingt Merz aber nun sofortige Neuwahlen, wird sich die SPD das später teuer bezahlen lassen. Vernünftiger wäre es, sofort mit der Arbeit zu beginnen.
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