Herr Bundeskanzler, wie nehmen Sie gerade die Stimmung im Land wahr?
Scholz: Die Stimmung in Deutschland ist natürlich davon beeinflusst, dass in unserer europäischen Nachbarschaft ein furchtbarer Krieg tobt. Der Krieg verändert vieles. Ich habe das eine Zeitenwende genannt. Denn die Sicherheitsarchitektur Europas wird infrage gestellt und unsere Energieversorgung gefährdet. Die Bundesregierung hat darauf sehr entschlossen reagiert: Die Bundeswehr wird nun deutlich besser ausgestattet und die Nato ist wiedererstarkt. Außerdem haben wir, entgegen vieler Befürchtungen, es verhindern können, dass Häuser und Wohnungen im vergangenen Winter kalt wurden und Industrieunternehmen ihre Produktion einstellen mussten, indem wir neue Lieferbeziehungen für Erdgas schließen und in Rekordzeit LNG-Terminals an den norddeutschen Küsten bauen konnten.
Trotzdem ist die Stimmung in Deutschland nicht gut. Umfragen zufolge sind vier von fünf Deutschen beunruhigt. Die hohe Inflation, die steigenden Lebensmittel- und Energiepreise bereiten den Menschen Sorgen. Geht das so weiter?
Scholz: Nein, die Europäische Zentralbank und die anderen Zentralbanken halten gegen, die Energiepreise sind längst wieder gefallen – auch dank der Maßnahmen, die wir ergriffen haben.
Das nützt der Rentnerin, die an der Tafel um Lebensmittel anstehen muss, erst mal nicht viel. Was sagen Sie ihr?
Scholz: Sehr vielen macht die Inflation zu schaffen, auch jungen Familien. Die Bundesregierung hat in einem großen – politischen – Schritt den Mindestlohn auf zwölf Euro pro Stunde angehoben. Wir haben das Kindergeld deutlich erhöht und das Wohngeld ausgeweitet, das auch Rentnerinnen und Rentner nutzen können, wenn ihr Geld nicht reicht. Und wir haben im vergangenen Jahr mit Einmal-Zahlungen und der Energiepreisbremse deutliche Entlastungen geschaffen.
Trotzdem sind viele von der Ampel genervt. Sie haben den Eindruck, dass in der Regierung zu viel gestritten wird…
Scholz: …aber sie bringt auch vieles voran. Die Regierung hat in den vergangenen Wochen und Monaten eine ganze Reihe von Entscheidungen getroffen, die in den vergangenen Jahren liegen geblieben waren. Wenn unsere Diskussionen etwas geräuschloser ablaufen könnten, hätte ich nichts dagegen, das sage ich Ihnen auch ganz klar. Immerhin, die Ergebnisse können sich sehen lassen. Wir lösen den Innovationsstau in Deutschland auf, beschleunigen die Planungen und stellen unser Land auf eine klimaneutrale Zukunft ein. Gerade planen wir ein Wasserstoffnetz in Deutschland, das sicherstellt, dass grüner Wasserstoff an die Stelle von fossilem Erdgas treten kann. Unternehmen werden Milliardensummen investieren. Wir bauen die Windkraft und die Solarenergie aus und unser Stromnetz, damit der günstige Windstrom aus dem Norden und Osten auch hier in Bayern ankommen kann.
Dennoch gibt es alarmierende Signale aus der deutschen Wirtschaft. Das Wachstum liegt in Europa weit hinten, Fachleute warnen vor einer Deindustrialisierung, weil deutsche Unternehmen stark im Ausland investieren.
Scholz: Deutschland ist eine global vernetzte Volkswirtschaft. Zu einer erfolgreichen Volkswirtschaft gehören viele Direktinvestitionen ins Ausland, so haben es die Lehrbücher immer hervorgehoben. Jetzt halten einige das für ein schlechtes Signal, naja. Siemens investiert aktuell zwei Milliarden Euro – eine Milliarde in Deutschland, die zweite an weltweiten Standorten. So wird Siemens weiter erfolgreich sein. Auch BMW hat Produktionsstandorte in aller Welt. Das ist jedenfalls kein Alarmsignal.
Nutznießer der kritischen Stimmung ist die AfD, die in Umfragen erstmals die 20-Prozent-Marke übersprungen hat. Wie weit tragen Sie als Kanzler eine Mitverantwortung für diese Entwicklung?
Scholz: Ich beschäftige mich mit dem rechten Populismus in Europa schon sehr lange. In Dänemark gibt es so eine Partei seit Jahrzehnten, auch in Norwegen, den Niederlanden und Österreich, jetzt auch in Finnland und Schweden. Die Frage lautet: Welche Probleme gibt es dort, die zu solchen Schlechte-Laune-Parteien führen? Das sind reiche Länder, hoch entwickelte Sozialstaaten mit gut bezahlten Arbeitsplätzen und erfolgreichen Volkswirtschaften. Meine Antwort ist: Viele Bürgerinnen und Bürger in unseren reichen Ländern sind sich nicht sicher, wie das werden wird für sie, ihre Kinder oder Enkel. Es braucht Respekt und einen zuversichtlichen Blick auf die Zukunft.
Aber warum hat das rechte Spektrum gerade jetzt so viel Zulauf?
Scholz: Das hat wohl zu tun mit der Entwicklung vieler Volkswirtschaften in der Welt, die das Gefühl entstehen lassen, es könnte nicht mehr alles so gut laufen wie jetzt. Auch technologische Veränderungen und der Wandel von Berufsbildern können Besorgnisse auslösen. Darum ist die wichtigste Antwort auf rechten Populismus: Lasst uns gemeinsam an einer guten Zukunft für alle arbeiten. Das ist für mich die zentrale Aufgabe der Regierung. Dazu gehören die strategischen Entscheidungen, die wir treffen, damit das geleistet wird und damit Unternehmen weiter stark in unser Land investieren.
Was kann die Politik tun, um die Gräben in der Gesellschaft nicht größer werden zu lassen?
Scholz: Wir alle sollten, wie gesagt, mehr Respekt haben vor den unterschiedlichen beruflichen Lebenswegen und Lebensorten. Im Allgäu lässt es sich gut leben – nicht nur in München. Wer sich entscheidet, Handwerkerin, Krankenpfleger oder Erzieher zu werden, macht alles richtig. Wir brauchen jede und jeden. Dann muss es aber auch hinhauen mit den Löhnen, genauso wie mit dem Ansehen. Dafür setze ich mich ein. Und ich werbe für mehr Gelassenheit. Wir sollten einander unsere Unterschiedlichkeit zubilligen und unsere Vielfalt als Stärke begreifen.
Gelassenheit ist ein gutes Stichwort. Ihnen wird immer wieder vorgeworfen, Sie äußerten sich bei Problemen zu wenig. Müssten Sie nicht auch mal auf den Tisch hauen? Und was ist mit der Führung, die Sie einmal versprochen haben?
Scholz: Ich führe das Land, sehr klar, in Richtung Modernisierung und einer guten Zukunft. Dafür haben wir schon viele Entscheidungen in den vergangenen Monaten getroffen, viele stehen noch bevor. Manche haben die absurde Idee, dass Führung darin besteht, auf den Tisch zu hauen. Das ist schlecht für die Hand, dem Tisch macht das wenig aus. Entscheidend ist, dass man hinkriegt, was man vorhat. Das gelingt uns und wird uns weiter gelingen.
Lassen Sie uns noch über die Ukraine sprechen. Eine Nato-Mitgliedschaft wird es fürs erste nicht geben. Welche Voraussetzungen müsste das Land erfüllen, dass Sie einem solchen Schritt zustimmen?
Scholz: Wir haben in Vilnius wichtige Beschlüsse gefasst. So werden alle Nato-Staaten mindestens zwei Prozent ihrer Wirtschaftsleistung für Verteidigung ausgeben. Und wir haben Vereinbarungen getroffen, dass sich die Ukraine sicher sein kann, während und nach dem Krieg die notwendige Unterstützung zu bekommen. Wichtig ist, dass die Nato-Kriterien im Hinblick auf Demokratie, Rechtsstaatlichkeit oder Integrationsfragen erfüllt werden.
Die USA hat bereits Streumunition in die Ukraine geliefert. Geht das zu weit?
Scholz: Deutschland hat sich für die Ächtung solcher Waffen ausgesprochen und den entsprechenden internationalen Vertrag unterzeichnet, anders als Russland, die USA und die Ukraine. Russland setzt diese Waffen auch ein. Die souveräne Entscheidung der USA habe ich nicht zu kommentieren.
Standortwechsel: Wir sitzen hier im Allgäu, einer ländlich geprägten Region. Manche Menschen auf dem Land fühlen sich von der Politik abgehängt. Beispiel Verkehrswende: Wie soll man auf Bus oder Bahn umsteigen, wenn die Verbindungen miserabel sind?
Scholz: Deshalb gibt es die geplanten Investitionen in die Bahn. Deshalb machen wir Druck, das Mobilfunk-Netz in Deutschland flächendeckend und endlich ohne Funklöcher auszubauen. Auch der Individualverkehr muss weiter möglich sein. Darum bin ich auch froh über die milliardenschweren Investitionen der Auto-Industrie in E-Mobilität. Die Regierung schafft die Voraussetzungen, damit die Ladesäulen-Infrastruktur endlich konsequent ausgebaut wird. Den ländlichen Raum haben wir als Koalition sehr genau im Blick. Und wenn ich mich hier so umschaue: Gerade hier ist es besonders attraktiv und lebenswert, nicht nur zum Urlaub machen.