Das grelle Heulen der Sirene schallt durch die dunklen Straßen von Kiew. Auf dem Handy schlägt die Warn-App an. Luftalarm. Die Begleiterinnen von Manfred Weber drängen zur Eile. Die Rollkoffer rattern über den Bahnsteig. Es ist kurz vor 6 Uhr am Morgen, die Müdigkeit, die gerade noch auf die Lider gedrückt hat, ist mit einem Mal weg. Der Chef der Europäischen Volkspartei (EVP) hat seinen Fuß noch keine Minute auf ukrainischen Boden gesetzt, als ihm lautstark klargemacht wird, wohin ihn seine Reise geführt hat: in eine Stadt im Kriegszustand. Die eigentliche Front im Osten mag weit weg sein. Doch mit dem Winter sind auch die Luftangriffe in die Metropole zurückgekehrt. Wie kleine Nadelstiche sollen sie den Willen der Ukrainerinnen und Ukrainer brechen. Immer und immer wieder.
An diesem kalten Tag im Januar tun sie besonders weh. Am Himmel blitzt es auf, gleich mehrfach ertönt ein tiefes Donnergrollen. Es ist das Geräusch, das die Raketenabwehr von sich gibt, wenn sie eines der Geschosse abgefangen hat, das Wladimir Putins Truppen über die Grenze schicken. Kiew ist zwar dank westlicher Hilfe gut abgeschirmt, aber die Brocken, die nach so einer Attacke unkontrolliert vom Himmel fallen, sind alles andere als harmlos. Eine Frau bezahlt Russlands Kriegslust an diesem Tag mit dem Leben, zehn weitere werden verletzt – darunter ein 13-jähriger Junge. In Charkiw, wo eine Rakete in einem Wohnhaus einschlägt, sieht es noch schlimmer aus.
EVP-Chef Weber reist mit dem Zug nach Kiew
Es ist das dritte Mal, dass Weber seit dem Einmarsch der russischen Armee die Ukraine besucht. Gut zwei Stunden hat es vor Kriegsbeginn gedauert, nun zieht sich der Weg zwischen München und Kiew auf fast 20 Stunden. Sie fühlen sich an wie eine Reise in eine andere Welt. Anders als Kanzler Olaf Scholz, Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen oder US-Präsident Joe Biden, lässt sich der CSU-Mann nicht mit einem gecharterten Flieger an die Grenze bringen, um dann die restliche Strecke ostwärts im komfortablen Sonderzug zu verbringen. Weber reist, wie es Hunderte andere auch machen, jeden einzelnen Tag. 28 Millionen Menschen sind seit dem Krieg aus der Ukraine gereist, 20 Millionen hätten die Grenze zurück passiert, schätzen die Vereinten Nationen. Von Deutschland aus geht es mit dem Flieger nach Warschau, dort bringt ein Bus die Gruppe ins drei Stunden entfernte Chelm.
Am Gleis qualmt und stinkt schon der Nachtzug. Kleine Abteile mit vier oder zwei Pritschen, bezogen mit blauem Kunstleder, nach oben muss man kraxeln, die Heizung bollert die winzige Kammer auf gefühlte 35 Grad hoch, es riecht nach Öl und Kohle. Frauen mit ihren Kindern laufen über die Gänge, junge Mädchen kichern, ein paar ausländische Besucher verstauen ihre Rucksäcke. Auf einem der Betten sitzt Brad. Der Mann mit dem wuchernden Bart ist Amerikaner, er hat sich den ukrainischen Streitkräften als Söldner angeschlossen. Gerade war er auf Heimaturlaub, nun geht es zurück an die Front. „Wir müssen doch für Freiheit und Demokratie kämpfen“, sagt er und schnürt sich die Stiefel.
Die Kämpfe in der Ukraine gehen trotz des Winters weiter
So klar sehen das längst nicht mehr alle Verbündeten der Ukraine. Immer dringlicher werden die Bitten von Wolodymyr Selenskyj. Ein militärischer Erfolg der Ukraine ist aktuell nicht in Sicht. Trotz der Wintermonate setzen die Russen ihre Kämpfe an der Front fort. Sie könnten sich noch über Jahre hinziehen. Ein Zermürbungskrieg. Und schon im Frühjahr könnte der Ukraine das Geld ausgehen. Auch deshalb nimmt der Präsident sich Zeit für Manfred Weber, den Chef der größten europäischen Parteienfamilie. 45 Minuten sind eingeplant, am Ende werden es fast 90.
Selenskyj lebt seit Kriegsausbruch quasi in der Bankova-Straße 11, eigentlich war es nur als Büro gedacht. Der „Palast“ ist im Innern ein schmuckloser Bau. Vor den Fenstern und auf den Gängen stapeln sich Sandsäcke. Sollte Russland eines Tages doch noch entscheiden, den Präsidentensitz zu stürmen, wollen die Ukrainer vorbereitet sein. Schon auf dem Weg dahin muss der Fahrer Straßensperren passieren, vorbei an ausgebrannten und zur Schau gestellten Panzern der Russen.
Plattenbauten wechseln sich mit prächtigen Jugendstilvillen ab. Es geht vorbei am Majdan, dem Platz, an dem 2004 die Orangene Revolution begann, an dem im Jahr 2013 Studenten gegen den damaligen Präsidenten Viktor Janukowitsch protestierten und wichtige Reformen in Gang setzten. Der Majdan ist ein Symbol für den Weg der Ukraine, ein Symbol für die Sehnsucht nach Freiheit und der Anbindung an den Westen. Ein Symbol für den Mut der Menschen.
Weber wird schon erwartet. Man spürt, dass der Termin auch für ihn etwas Besonderes ist. Durch einen Hinterhof geht es zu dem Mann, der seit nunmehr zwei Jahren einen Kampf führt, der zunächst aussichtslos erschien und ihn dann für viele zu einem Helden werden ließ. „Für mich ist diese Reise hochsymbolisch“, sagt Weber. Nicht nur, dass sich der Einmarsch der russischen Armee am 24. Februar schon zum zweiten Mal jährt und der Krieg damit in sein drittes Jahr geht. Am 1. Februar steht auch ein EU-Gipfel an, der es in sich hat. Immer wieder verwendet der CSU-Politiker das Wort „historisch“. 50 Milliarden Euro wollen die EU-Mitglieder an diesem Tag für die Ukraine bereitstellen – bis auf eines: Ungarn. Viktor Orban treibt seit Wochen eine Art Katz-und-Maus-Spiel mit seinen Kollegen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass er seine Stimme verweigert – eine Drohung, die im zur Einstimmigkeit verdammten Brüssel für nervöses Herzrasen sorgt.
Die EU braucht bei ihrem Gipfel einen Plan B
Zwar will die Kommission notfalls eine pragmatische Alternative suchen, etwa einen Fonds außerhalb der EU-Strukturen einrichten, in den die übrigen 26 EU-Mitglieder (oder wie viele dann noch übrig bleiben) einzahlen. Doch die Botschaft, dass sich die Ukraine zumindest nicht zu 100 Prozent auf Europa verlassen kann, wäre ein Schlag für Europa und ein Triumph für Putin. Und eine Katastrophe für Kiew. Mit dem Geld sollen nicht nur Waffen bezahlt werden, sondern auch Staatsangestellte, Krankenschwestern, Busfahrer. Die Hälfte des Staatshaushaltes wird inzwischen mit internationalen Geldern bestritten. Niemand in Kiew macht einen Hehl daraus, dass ohne diesen Tropf schon längst alle Vitalfunktionen erstorben wären. Wer die ranghohen Mitglieder von Regierung und Geheimdienst auf die US-Wahl anspricht, erntet zynisches Gelächter. Da muss wenigstens Europa zusammenstehen. „Scheitern ist keine Option“, sagt Weber. „Die Ukraine braucht und verdient unsere Hilfe.“ Selenskyj macht noch einen anderen Vorschlag: Warum nicht die eingefrorenen russischen Gelder, die auf europäischen Konten liegen, der Ukraine zur Verfügung stellen?
Weber zieht den Reißverschluss seiner Daunenjacke bis oben hin zu. Es bläst ein eisiger Wind um das St.-Michael-Kloster mit seinen goldenen Kuppeln, auf den Straßen liegt Schnee. Erzengel Michael gilt als Bezwinger des Satans und Schutzpatron der Soldaten. Welcher Platz wäre besser geeignet, derer zu gedenken, die im Kampf um eine unabhängige Ukraine ihr Leben gelassen haben. Hunderte, vielleicht Tausende Totenbildchen pflastern die Maueranlage der Kirche.
Sie geben dem Krieg ein Gesicht, der sonst angesichts seiner Monstrosität für viele Menschen kaum zu fassen ist. Nicht nur in der Ukraine. Nach Schätzungen von Experten verlieren auch die Russen 400 bis 800 Kämpfer – pro Tag. 1100 Männer rekrutiert Putin täglich neu. Es ist ein Fleischwolf, in den sie geworfen werden. Menschenmaterial. Der Autokrat kann es sich leisten. In der Ukraine aber wächst die Erschöpfung mit jedem Tag. Weber bekreuzigt sich und legt einen Strauß roter Rosen an die Mauer.
Die Kampfhandlungen in der Ukraine vereinen Vergangenheit und Zukunft auf widersprüchlichste Weise. Einerseits wird modernste Drohnentechnik eingesetzt, die Woche für Woche ausgefeilter zu sein scheint und mit minimalem Aufwand maximale Wirkung erzeugen kann. Gerade einmal 1000 Euro kostet eine Drohne, der Panzer, den sie zu zerstören vermag, Millionen. Zugleich sterben auf den Schlachtfeldern Soldaten wie im Ersten Weltkrieg auf brutalste Weise, weil sie ohne Unterstützung aus der Luft nicht gerettet werden können und langsam an ihren Verletzungen zugrunde gehen. Es ist ein Krieg der Extreme. Dabei waren viele doch überzeugt, dass die Zeit der großen Schlachten in Europa vorüber sei. „Wir dachten, dass die Idee von Freiheit und Rechtsstaatlichkeit so dominant ist, dass sich das Denken verändert hat – aber die Realität hat uns eines Besseren belehrt“, sagt Weber.
Neue Blöcke entstehen wie im Kalten Krieg
Für ihn ist das, was er während seiner Reise erlebt, nicht einfach irgendein Krieg. Es ist ein Wettkampf der Systeme. Ähnlich wie im Kalten Krieg haben sich Machtblöcke herausgebildet, die um die Vorherrschaft ringen. „Es ist ein Konflikt, in dem es um unsere Werte geht“, sagt er. Welche Werte Russland vertritt, haben viele Ukrainerinnen und Ukrainer in Butscha, in Irpin, in Mariupol erlebt. Die Orte wurden zu Chiffren des Grauens. Auch deshalb gibt es im Land den Spruch: Wenn Putin aufhört zu kämpfen, ist der Krieg zu Ende – wenn wir aufhören, sind wir tot.
Trotzdem hört man von Selenskyj inzwischen häufiger das Wort „Friedensinitiative“. Im schweizerischen Davos hatte er einen Zehn-Punkte-Plan vorgestellt. Doch er braucht Unterstützer, die Druck auf Russland ausüben. Das kann der Westen kaum noch. Der Globale Süden, China, Indien – sie sollen an Bord geholt werden. Doch allen diplomatischen Mühen zum Trotz: Selenskyj will Russland möglichst eine strategische Niederlage zufügen, das Land so sehr schwächen, dass es niemals wieder eine solche Aggression lostreten kann. Es ist sein gewichtigstes Argument, um den Westen aus seinem Motivationstief zu holen. Es ist eine Politik der kleinen Schritte, doch immerhin gibt es sie noch. Am Mittwoch sagt Deutschland erstmals die Lieferung von Militärhubschraubern zu. Es sind alte Transporthelikopter der Bundeswehr. Sie helfen, den Krieg drehen werden sie nicht. Taurus-Marschflugkörper, die die gewaltigen Minengürtel der Russen überwinden können, wären besser gewesen. Scholz will nicht. Russland kontrolliert weiter rund ein Fünftel des Staatsgebiets der Ukraine, im Süden spannt sich ein Gürtel von Synkiwka bis zur Krim, den die russische Armee eingenommen hat. Die Rechnung von Militärexperten geht so: Verteidigung ist leichter als Angriff. Auf jeden Verteidiger müssten drei Angreifer kommen, um das Blatt zu wenden.
Wo bleibt sie also, die Hoffnung. „Es kann nicht sein, dass die gesamte demokratische Welt gegen einen einzigen Diktator verliert“, sagt Metropolitan Epiphanius I., ranghöchster Vertreter der ukrainischen Kirche. Seit Monaten führt er ranghohe Politiker und Staatsgäste durch die St.-Michael-Kirche. Auch mit Weber zündet er gemeinsam eine Kerze an. Eine Frau eilt herbei und lässt sich den Segen erteilen. „Wir beten und wir glauben, dass Gott uns hilft“, sagt der Kirchenmann. „Gott kann alles ändern.“
Ein drittes Mal ertönt an diesem Tag der Luftalarm. Ein drittes Mal schreit die Handy-App: „Achtung! Luftalarm. Begeben Sie sich in den nächstgelegenen Schutzraum.“ Gesprochen werden die Sätze von der Stimme von Luke Skywalker aus „Star Wars“. Immer, wenn die Entwarnung kommt, schließt die Ansage mit den berühmten Worten „Möge die Macht mit dir sein“. Die Entwickler der Softwarefirma haben sich einen kleinen Scherz erlaubt. Oder? In „Star Wars“ wehrt sich eine Gruppe von Widerstandskämpfern gegen eine vermeintlich übermächtige Diktatur. Am Ende gewinnen die Rebellen.